Beiträge zur geistigen
Situation der Gegenwart Jg. 4 (2003), Heft 6
Regina Berlinghof: Schrödingers Katharina oder Liebe am anderen Ende der Welt. Roman. YinYang Media Verlag, Kelkheim 2003, 260 Seiten, ISBN 3-935727-08-9, 14 €
Ganz sicher ist "Schrödingers Katharina" ein ungewöhnliches Buch. Die direkte Handlung ist schnell erzählt - und auch wieder nicht: Katharina Jukulli, erfolglose Schriftstellerin und zudem in einen Verleger, der weder etwas von ihr, noch von ihren Büchern wissen will, verliebt, entführt ihn, der sich gerade in Amerika aufhält, in die Wüste Nevadas und hält ihn dort gefangen. Als der Verleger Ulrich Kirdorf selbst oder gerade unter diesen Verhältnissen seine Zuneigung zur Entführerin entdeckt, werden ihm die Fesseln abgenommen. Nun erleben beide eine mystisch-magische und doch auch ganz reale Vereinigung, die zur Sprengung aller Gefühls- und Denkschablonen führt. Katharina entwickelt Ulrich - in einem langen, dem vorletzten, Kapitel - die physikalischen Überlegungen, die sie in ihren neuen Roman aufnehmen will. Hilfe erfährt sie dabei von mannigfachen Gedankengestalten, einem Drachen, mit dem Ulrich und sie allerdings leibhaftig durch die Lüfte fliegen, Sokrates, Einstein, Lao Tse, auch Jesus und anderen, in deren Präsenz scheinbar der Unterschied zwischen Wirklichem und nur Gedachtem hinfällig wird.
"Wir sehen uns an - gibt es noch Grenzen zwischen uns? Unsere Körper brennen, wollen sich wieder vereinigen, dabei sind wir längst eins. Wir haben uns getroffen - da, wo wir fühlen, wo wir empfinden, da, wo unsere Sehnsüchte sitzen, die wie Luftballons aufsteigen und uns loslassen, weil sie erfüllt worden sind. Wir finden den unbekannten Ort, den man früher den Sitz der Seele nannte. Ein altmodischer Ausdruck - und doch: Unsere Seelen haben sich gefunden, lassen sich von der Liebe führen und schwingen im Glück zusammen. Unsere Körper folgen dem Rhythmus der Liebe - wie Musikinstrumente, die von einem unsichtbaren Taktstock dirigiert zum Orchester einer großen Sinfonie verschmelzen. Musik überwindet die Grenzen des Körpers und des Ichs durch Hören. Die Liebe durch Sehen. Sie überwindet, zerteilt, löst in einem einzigen Augenblick auf, was die Wissenschaft in mühsamen, jahrhundertelangen Schritten mit Hilfe von Elektronenmikroskopen und viel Theorie erkannt hat: dass Körper, feste Materie Schwingung und Energie sind. Aber Liebe erkennt noch viel mehr. Sie erkennt nur Schönheit. Und wenn wir lieben, sind wir schön. Lieben und in Liebe erkannt werden, das ist die Erkenntnis des wahren Kerns in uns. Dass wir selbst aus jener Liebe sind, die wir immer gesucht haben. Die Liebe ist wie eine Flamme, die alles verbrennt und reinigt, was nicht selbst Liebe ist. Hatte ich je Angst, dass er mich nicht liebt? Dass ich nicht schön bin? Ich liebe und finde Liebe, da wo ich liebe" (S. 142f).
Das längere Zitat zeigt, dass Berlinghof sich dem Vorwurf, mit falschem Pathos zu agieren, ohne weiteres aussetzt. Nicht wenige Stellen des Romans scheinen auf den ersten Blick beinahe kitschig - dennoch liest man weiter und befindet sich schnell in einem Sog. Wodurch entsteht er? Tatsächlich werden in diesem Buch nicht nur die oben bereits genannten Unterschiede, sondern ebenso derjenige zwischen falschem Pathos und Echtheit aufgehoben. Die scheinbare Naivität hat doch Methode. Weil Berlinghof keine literarischen Verbote akzeptiert, kann sie Kolportageelemente, die kein Gegenwartsschriftsteller auch nur mit Handschuhen anfassen würde, verwenden, die letztlich mehr jeden heute vorgegebenen Sprach-Kanon sprengen, als die Schilderungen der Liebesumarmungen unter freiem Himmel.
Auch der letzte Unterschied, der zwischen Naivität und Reflexion, gilt hier nicht mehr. Man registriert also beim Lesen verwundert, dass man manchmal innehalten und etwas inakzeptabel finden möchte, und doch schon mit den Augen im Text weitereilt. Aber glaubt man denn, was man liest? Ich, für meine Person, kann hier nur mit einem klaren "Nein" antworten. Für Katharina ist nichts gewisser, als dass die Schlangen und Skorpione der Wüste den unter freiem Himmel nächtigenden Verliebten nichts tun. Das erinnert an die westlichen Meditationsschüler, die in Indien trotz schärfster Warnungen keine Sandalen trugen, weil sie dachten, die Sandwürmer drängen in die Fußsohlen 'befreiter' Menschen nicht ein. Sie wurden eines besseren belehrt. Der uralte Mythos, die Natur schone denjenigen, der ihr ohne Angst gegenübertrete, hält sich dennoch. Er beinhaltet ein Orpheus-Motiv: die das Lied des Sängers hörenden Raubtiere werden friedlich und lagern sich zu seinen Füßen.
Dieses Friedensmotiv macht auch den Kern von Berlinghofs Ideal aus. Die "Sehnsüchte" lassen uns los, "weil sie erfüllt worden sind". Wer solchermaßen gewaltfrei mit sich selbst, den eigenen Trieben und Bedürfnissen, umgeht, dessen Angst vor Ablehnung oder Liebesentzug vergeht: "Hatte ich je Angst ...". Auch Gandhis Theorie der gewaltfreien Aktion wurde von solch west-östlicher Mystik inspiriert. Man wird ihrer politischen Umsetzung nicht einfach vorwerfen können, dass sie gescheitert sei - aber im direkten Sinne gelungen ist sie keineswegs.
Berlinghofs Roman versucht eine Einheit wiederherzustellen oder zumindest einzuklagen, die - gerade als Idee - vergangen ist. Umso überraschender ist die Unbekümmertheit und Frische, mit der die Autorin zu Werke geht. "Schrödingers Katharina oder Liebe am anderen Ende der Welt" ist für mich besonders aus zwei Gründen lesenswert. Zum einen wird diese vertrackte Mischung aus Literatur und physikalischer Reflexion nie langweilig; zum anderen erinnert sie an etwas, das wir im Alltagsdasein immer wieder vergessen, nämlich daran, dass wir unser Glück noch nicht gefunden haben.
Nachbemerkung
Ein anderer Versuch, dieses Ideal von Freiheit und Frieden zu bewahren, stammt direkt aus der Zeit seines Untergangs. Der Heidegger-Schüler Otto Friedrich Bollnow veröffentlichte 1941 in erster Auflage "Das Wesen der Stimmungen". Darin lesen wir:
"So bestätigt sich von den verschiedenen Zeugnissen her der eigentümliche und auch philosophisch entscheidend wichtige Zusammenhang, dass der Mensch nur im Zustand einer tiefsten inneren Befriedigung zugleich zur höchsten Vollendung seines inneren Wesens gelangt. Dieser letzte und erfüllteste aller Glückszustände, den man am treffendsten mit dem Namen der Seligkeit bezeichnet, ist zugleich der Zustand, in dem der Mensch am vollsten er selber ist." ( Otto Friedrich Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, 8. Aufl. 1995, S. 96)
Aber solche Seligkeit war die gesteigerte Erfahrung eines Moments. Sie überwand das Böse nicht, sondern erzeugte es mit ihren eigenen Kräften neu. Hierin liegt der entscheidende Grund, warum ihr Ideal in der Postmoderne nicht wiedererstehen kann. Was heute Glück heißen könnte, lebt aus anderen Bedingungen.
Peter Rhonfeld