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Regina Berlinghof
Mystiker
- Rebellen für die Freiheit
Vortrag für Bonn – Goethe Hafisbuchhandlung,
leicht gekürzt gehalten am 9. Juni 2001
(nachträglich ergänzt um die Passagen
um Krishnamurti)
Die Veranstaltung
fand zugunsten der Hinterbliebenen von ermordeten iranischen Schriftstellern
und Intellektuellen statt.
Veranstalter:
Die Goethe-HafisBuchhandlung auf dem Brüser Berg
Komm' laß uns Rosen streuen,
Und Wein in Becher werfen,
des Himmels Dach zertrümmern,
und neue Formen werfen.
Hafis, Der Diwan, Band II, S. 156
Das sind die Verse eines muslimischen Mystikers
und Sufis aus dem 14. Jahrhundert. Der große persische Dichter Hafis
hat sie verfaßt. Und ich glaube, er wäre mir nicht böse,
wenn ich sie vergliche mit den Spiel eines Kindes, das mit Bauklötzchen
einen Turm errichtet – nur um ihn niederzureißen und einen neuen
aufzubauen. Hafis spielt nicht mit Bauklötzchen. Er spielt mit heiligen
Formen.
Die meisten Menschen, sofern sie religiös
und gläubig sind, erschrecken bei dem Gedanken, mit der Form der Religion
zu spielen. Bei Religion wird es meistens furchtbar ernst. Auch bei ihren
abgeleiteten weltlichen Kindern, den Ideologien. Die Menschen streiten
um die Wahrheit ihrer Religionsform: Christen gegen Juden, Muslime gegen
Christen und umgekehrt. Christen streiten gegen Christen, Muslime gegen
Muslime, Juden gegen Juden. Alle Frommen gegen die Atheisten und Nichtreligiösen,
die Atheisten wiederum gegen die Religionen. Nur die Mystiker halten sich
vom dem allgemeinen Religionsstreit fern. Entweder sie spielen wie Hafis
oder blicken gleichmütig, gelassen in die Runde des Kampfgetümmels,
als ginge sie das gar nichts an. Mystiker sind nicht an Theologie
oder Politik interessiert. Sie interessieren sich für den konkreten
Menschen und für das Eine: sie sind an Gott interessiert oder weniger
religiös ausgedrückt: an dem Urgrund der Welt,
Omar Khayyam (Hans Bethge) - Der persische
Weise und Mystiker aus dem 11. Jahrhundert
In Uns
Mit Inbrunst hab ich überm Meer der Wolken
Geforscht nach Schicksal, Paradies und Hölle.
Da sprach mein weiser Lehrer ernst: „O Freund!
Du suchst in viel zu fernen Regionen, –
In dir allein sind Paradies und Hölle.“
Mystiker verschließen die Augen und Lippen
vor dem äußeren Alltags- und Weltgeschehen, um nach innen zu
schauen. Das ist jedenfalls die griechische Bedeutung des Wortes Mystik
laut Fremdwörterbuch. Ebenso bedeutet es Seeleneinheit mit Gott bzw.
mit dem Weltganzen.
Angelus Silesius (Johannes Scheffler, ein christlicher
Mystiker aus dem 17. Jahrhundert schrieb in seiner Verssammlung:
Aus dem cherubinischen Wandersmann
Der Himmel ist in dir –
Halt an, wo laufst du hin? Der Himmel ist in
dir;
Suchst du Gott anderswo, du fehlst ihn für
und für.
Ich möchte an dieser Stelle keinen großen
theologischen Vortrag über Mystik und Mystiker halten. Noch weniger
über die Frage, ob es eine Seeleneinheit mit Gott gibt und wie dies
zu verstehen ist. Ich bejahe zwar diese Frage aus eigener Erfahrung. Aber
da dies eine rein subjektive Angelegenheit ist, sollte eine solche Erkenntnis
niemand aufgedrängt werden. Ich werde Ihnen aber ein paar Beispiele
und Aussprüche von Mystikern aus ganz unterschiedlichen Kulturen und
Zeiten geben. Vor allem aber – und das gilt im Hier und Heute – möchte
ich aufzeigen, daß alle Mystiker ihre Einheitsschau als große
Befreiung erlebt haben. In Folge davon haben sie für sich selbst
und ihr Leben nicht nur eine große innere und äußere Freiheit
gewonnen. Sie haben in Wort, Tat und Leben ihre Freiheit bezeugt und durch
ihr unerschrockenes öffentliches Auftreten ihre Mitmenschen zur Erfahrung
dieser Freiheit zu führen versucht.
Ein großer Mystiker des 20. Jahrhunderts,
Jiddu Krishnamurti, legte die Führer- und Gururolle, die er sechzehnjährig
von der Theosophischen Gesellschaft erhalten hatte, nach einigen Jahren
nieder und löste den Orden, der für ihn geschaffen war, auf.
Krishnamurti:
Im Vorwort Mary Lutyens in „Einbruch in die
Freiheit“
„Er verkündete damals der Welt, daß
die Wahrheit ein pfadloses Land sei, grenzenlos, dem man sich nicht durch
irgendeine festgelegte Religion nähern kann. ‘Mein einziges Interesse,’
so sagte er, ‘besteht darin, den Menschen absolut, unbedingt frei zu machen.’“
Das Licht in dir, S. 42/43
Ein religiöser Geist erkennt keinerlei
Autoritäten an. Aber er besitzt Intelligenz und wendet diese Intelligenz
an.
Auch wenn Mystikern es nicht immer gelungen ist,
die Menschen zur Freiheit zu führen, haben sie zumindest das Bewußtsein
der Freiheit wachgehalten oder in Erinnerung gerufen. Dabei war und ist
es nie ganz ungefährlich, sich auf ein solches Einheitserlebnis zu
berufen und zu behaupten, mit Gott eins zu sein:
„Ich bin Gottes Sohn“, sagte Jesus und wurde
wegen Gotteslästerung ans Kreuz geschlagen. „Ich bin Gott (ana ’l-haqq
– ich bin die Wahrheit)“ sagte der Muslim Mansur al-Halladsch, und wurde
dafür 922 grausam hingerichtet. Auch wer sich heute noch „Gott“ nennt
wie Bhagwan Shri Rajneesh, dem rücken die Sektenbeauftragten
der Kirchen auf den Hals.
Einer, der als häretisch verurteilt wurde,
war der große Mystiker des christlichen Mittelalters, Meister Eckehart
(1260-1329). Die Kirche bannte einen Teil seiner Schriften, weil er "mehr
wissen wollte, als nötig war." Man warf ihm vor, sein Ohr von der
Wahrheit abzukehren und sich Erdichtungen zuzuwenden (so die Bulle Papst
Johannes XXII.)“, Er sagte Quint S. 354
Gott muß schlechthin ich werden und ich
schlechthin Gott, so völlig eins, daß dieses Er und dieses Ich
Eins ist, werden und sind und in dieser Seinsheit ewig ein Werk wirken.
Denn solange dieses Er und dieses Ich, das heißt Gott und die Seele,
nicht ein einziges Hier und ein einziges Nun sind, solange könnte
dieses Ich mit dem Er nimmer wirken noch eins werden..“
Oder später Angelus Silesius im Cherubinischen
Wandersmann:
Ich bin wie Gott, und Gott wie ich
Ich bin so groß wie Gott, er ist als ich
so klein;
Er kann nicht über mich, ich unter ihm
nicht sein.
Das Ein ist in dem Andern
Ich bin nicht außer Gott, und Gott nicht
außer mir;
Ich bin sein Glanz und Licht, und er ist meine
Zier.
Der hingerichtete Mansur al-Halladsch: (10. Jahrhundert)
Ich bin der, den ich lieb’; Er, den ich liebe,
Ist ich – Zwei Geister, doch in einem Leibe.
Und wenn du mich siehst, hast du Ihn gesehen,
Und wenn du Ihn siehst, siehst du uns beide.!
Es hat mein Geist gemischt sich mit dem Deinen,
Wie Wein vermischt mit klarem Wasser sich.
Wenn etwas dich berührt, rührt es
auch mich an,
Denn immer bist und überall Du -
ich.
Selbst Atheisten müssen oft schlucken, wenn
sie solche Worte hören, die nichts als reine Anmaßung und Hybris
– oder den Wahnsinn des Sprechers zu verkünden scheinen. Das Erstaunliche
bei Mystikern ist nur, daß sie zwar „selbstherrlich“ mit Gott auf
Du und Du zu stehen, ja sogar die Identität mit Gott behaupten. Zugleich
sind sie in Art und Lebensführung meist sehr bescheidene, oft sogar
demütige Menschen, die keinen Unterschied zwischen den gesellschaftlichen
Rangstufen machen, nicht einmal den zwischen Mensch, Tier, Pflanze, Stein.
Oft werden sie dafür eher belächelt oder mit Verwunderung bestaunt,
wenn die kleinste Mücke soviel wert sein soll wie der größte
König oder Heilige, ja soviel wie Gott oder das Göttliche selbst.
Gott ist das Kleinst und Größte
Mein Gott, wie groß ist Gott! mein Gott,
wie klein ist Gott!
Klein als das kleinste Ding und groß wie
all's von Not.
Im apokryphen Thomasevangelium wird das Besondere
der Gottesschau deutlich gemacht: die Identifikation geschieht ja nicht
nur mit Gott – sondern in Gott mit jedem Lebewesen und jedem Ding, das
auf der Welt existiert. Denn Gott ist alles und in allem:
Thomasevangelium, Logion 77:
Jesus hat gesagt: Ich bin das Licht, das
über allen ist. Ich bin das All; das
All ist aus mir hervorgegangen, und das All
ist zu mir gelangt. Spaltet ein Stück Holz
– ich
bin dort; hebt einen Stein auf – und ihr
werdet mich dort finden.
Was finden wir denn, wenn wir einen Stein aufheben?
Kleine Tierchen wie Asseln, vor denen wir Angst und Ekel empfinden, weil
man es uns so beigebracht hat. Wer aber in einer Assel, in einem Stückchen
Holz oder einem Kieselstein oder Atom Gott zu erkennen vermag, der macht
zwischen den verschiedenen Seinsformen keinen Unterschied mehr.
Wohin auch der Mystiker blickt, überall
erblickt er Gott:
Meister Eckhart, sagt dazu:.
146 (Vom edlen Menschen)
"Wenn man aber die Kreaturen in Gott erkennt,
so heißt und ist das eine Morgenerkenntnis, und auf diese Weise schaut
man die Kreaturen ohne alle Unterschiede und aller Bilder entbildet und
aller Gleichheit entkleidet in dem Einen, das Gott selbst ist.
(Abenderkenntnis ist das Sehen und Erkennen
von außen, in Zeit und Raum)
Wenn aber die Seele erkennt, dass sie Gott erkennt,
so gewinnt sie zugleich Erkenntnis von Gott und von sich selbst."
Ganz ähnlich der Sufi Abu Sa’id ibn Abi’l-Khair,
Perser, gest. 1049 (S. 99)
Ein Derwisch fragte: „Wo soll ich Gott suchen?“
Abu Sa’id antwortete ihm: „Wo du Ihn suchtest, fandst du Ihn nicht. Begehrst
du wirklich, einen Schritt auf Seinem Wege zu tun, wirst du Ihn sehen,
wohin du auch blickst.“
Und Der Sufi-Mystiker und als Ketzer hingerichtete
Al Halladsch:
Du bist, der allem den Ort gibt,
aber Du bist nicht sein Ort,
Du bist in allem das Ganze,
doch nicht vergänglich wie wir.
Du bist mein Herz, mein Gewissen,
bist mein Gedanke, mein Geist,
Du bist der Rhythmus des Atmens,
Du bist der Herzknoten mir.
Der Sufi-Mystiker Al Halladsch an anderer Stelle:
Wenn ich nach Osten mich wende,
strahlst Du im Osten mir auf,
Wenn ich nach Westen mich wende,
Stehst vor den Augen Du mir,
Wenn ich nach Oben mich wende,
bist Du noch höher als dies,
Wenn ich nach Unten mich wende,
bist Du das Überall hier.
Ganz ähnliches finden wir in einem Lied
der Navaho-Indianer im Südwesten Amerikas, die den spirituellen Weg
der Schönheit gehen und die Schönheit, d.h. Gott überall
finden:
In beauty, I walk
To the direction of the rising sun
In beauty, I walk
To the direction traveling with the sun
In beauty, I walk
To the direction of the setting sun
In beauty, I walk...
All around me my land is beauty
In beauty, I walk
Navaho (Yebechi) chant
In der Schönheit wandre ich
Zur aufsteigenden Sonne gerichtet –
In der Schönheit wandre ich
Mit der Mittagssonne reisend –
In der Schönheit wandre ich
Zur untergehenden Sonne gerichtet –
In der Schönheit wandre ich
Rings um mich her ist die Erde voll Schönheit
In der Schönheit wandre ich
Navaho (Yebechi) chant
Angelus Silesius im Cherubinischen Wandersmann:
Die Kreaturen sind Gottes Widerhall
Nichts weset ohne Stimm: Gott höret überall,
In allen Kreaturn sein Lob und Widerhall
Nach Gott ist alles gebildet.
Gott ist von Anbeginn der Bildner aller Dinge
Und auch ihr Muster selbst, drum ist ja keins
geringe.
Rumi Rubayat (um 1200-1273) macht deutlich, wie
weit dieses „Gott in allem“ gehen kann:
S. 76
Selbst die Schmähung, die von deinen
Lippen kommt, ist schön.
Wie der flammende Rubin so
feurig und so schön.
Doch ich finde ohne Staunen
deine Schmähung schön,
Denn ein Wind, der über rote
Rosen weht, ist schön.
Rumi: S. 96
Schimmel: "In seiner neuerwachten Liebe begreift
er [der Mensch], daß Gott die Quelle alles Geschaffenen, der Ursprung
jeder Handlung ist:
Rumi:
"Macht er mich zum Becher, so werde ich Becher;
Macht er mich zum Dolche, so werd' ich ein Dolch;
Macht er mich zur Quelle, so gebe ich Wasser;
Macht er mich zu Feuer, so schenke ich Glut;
Macht er mich zum Regen, so bringe ich Ernte;
Macht er mich zur Nadel, so stech' ich in den
Leib;
Macht er mich zur Schlange, so spritze ich Gift
aus;
Macht er mich zum Freunde, so diene ich ihm..."
Würde Rumi angesichts der Fatwa gegen Salman
Rushdie und gegen andere nicht sagen:
Macht er mich zum Lästerer, so lästere
ich zu seiner Ehre...?
Ebenso umfassend zeigt das folgende Beispiel
aus dem chinesischen Taoismus das Einheitsdenken bis in die letzten Konsequenzen
S. 230
Meister Ostwind befragte den Dschuang Dsi und
sprach:
„Was man den Sinn nennt, wo ist er zu finden?“
Dschuang Dsi sprach: „Er ist allgegenwärtig.“
Meister Ostweiler sprach: „Du mußt es
näher bestimmen.“
Dschuang Dsi sprach: „Er ist in dieser Ameise.“
Jener sprach: „Und wo noch tiefer?“
Dschuang Dsi sprach: „Er ist in diesem Unkraut.“
Jener sprach: „Gib mir noch ein geringeres Beispiel.“
Er sprach: „Er ist in jenem tönernen Ziegel.“
Jener sprach: „Und wo noch niedriger?“
Er sprach: „Er ist in diesem Kothaufen.“
Meister Ostweiler schwieg stille.
Da sagte Dschuang Dsi: „Eure Fragen berühren
das Wesen nicht. ... Ihr müßt nur nicht in einer bestimmten
Richtung suchen wollen, und kein Ding wird sich Euch entziehen. Denn so
ist der höchste SINN. Er ist wie die Worte, die den Begriff der Größe
bezeichnen. Ob ich sage: ‘allgemein’ oder ‘überall’ oder ‘gesamt’:
es sind nur verschiedene Ausdrücke für dieselbe Sache., und ihre
Bedeutung ist eine.
Dieses letzte Beispiel zeigt auch, wie anstößig
die Seh- und Denkweise der Mystiker sein kann. Es wird die meisten frommen
Christen, Juden, Muslime, Buddhisten und Hindus kränken, wenn man
ihnen sagte, sie sollten Gott im Kothaufen und bei den Asseln suchen. Der
japanische Zen-Meister Umnon wurde befragt, "Was ist Buddha?"; er antwortete
"Ein Scheißstock!" (d.h. ein Stöckchen Holz zum Abputzen. Wir
nehmen heute Toilettenpapier!) Die Ähnlichkeit zwischen einem solchen
Mystiker und einem Nihilisten, der alle Religion für nichts oder drastischer
für „Scheiße“ hält, besteht aber nur auf den ersten Blick.
Der Mystiker wertet Religion nicht zu Scheiße ab – sondern er sieht
die göttliche Heiligkeit in allem und jedem, selbst im verächtlichsten
Ding oder Wesen. „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten
Brüdern, das habt ihr mir getan“. Sehen Sie die Ähnlichkeit der
Denkweise zu diesem Jesuszitat? (Matth. 25,40).
Der große Zen-Meister Bodhidharma kam vor
den Kaiser von China, der ihn fragte: „Was ist der höchste Sinn der
Heiligen Wahrheit?“ Bodhidharma sagte: „Offene Weite – nichts von heilig.“
Statt: „Offene Weite – nichts von heilig“ kann
man genauso gut sagen: „Offene Weite – alles heilig“. Mystiker kennen (jedenfalls
im mystischen, im erleuchteten Zustand) keine Hierarchie in der Schöpfung,
keinerlei Abwertung oder Verdammung. Es gibt vor allem keine Unterscheidung
zwischen heilig und unheilig. Und damit kommen Mystiker regelmäßig
in Konflikt mit den Maßstäben des Normaldenkenden und der Normaltheologen,
deren Erkenntnisse mehr dem analytisch-logischen Denken und der Interpretation
einmal geschriebener „Heiliger Bücher“ oder Canones. entstammen. Aber
Mystiker kann nicht einmal der Teufel schrecken.
Die muslimische Mystikerin Rabi‘al-‘Adawia
hoch angesehen unter den Sufis, starb 801 nach
einem strengen asketischen Leben. Als Kind wurde sie – früh verwaist
– in die Sklaverei verkauft, später freigelassen. Ihren Frieden soll
sie in einer Wüsteneremitage – ganz ohne Meister – gefunden haben.
Sie sagt: „Die Liebe zu Gott läßt
bei mir keinen Raum für einen Haß gegen den Teufel.“ bei Tor
Andrae: S. 111:
Ganz ähnlich im Cherubinischen Wandersmann
des Angelus Silesius
Gott kann nichts hassen
Mensch, rede recht von Gott: er haßt nicht
sein Geschöpfe
(Unmöglich ist es ihm), auch nicht die
Teufelsköpfe.
Rabia ging mit einem Eimer Wasser und einer brennenden
Fackel durch die Straßen. Befragt, warum, sie das täte, antwortete
sie: Das Wasser schütte ich in die Feuer der Hölle, um die Leiden
der Gequälten auszulöschen. Mit der Fackel entzünde ich
das Feuer der Liebe.“ (aus der Erinnerung. Vortrag Prof. Weber, Ffm 1999)
Annemarie Schimmel, Gärten der Erkenntnis,
S. 21
Man sah sie in den Straßen von Basra,
mit einem Eimer in der einen Hand und einer Fackel in der anderen. Gefragt,
was das bedeute, antwortete sie: „Ich will Wasser in die Hölle gießen
und Feuer ans Paradies legen, damit diese beiden Schleier verschwinden
und niemand mehr Gott aus Furcht vor der Hölle oder in Hoffnung aufs
Paradies anbete, sondern nur noch um Seiner ewigen Schönheit willen.
Krishnamurti, Notizbuch, S. 15
Das, was heilig ist, hat keine Eigenschaften.
Ein Stein in einem Tempel, ein Bild in einer Kirche, ein Symbol ist nicht
heilig. Der Mensch nennt sie heilig, etwas Heiliges, das aus komplizierten
Bedürfnissen, Ängsten und Sehnsüchten verehrt wird. Diese
„Heiligkeit“ befindet sich noch im Bereich des Denkens; sie wurde vom Denken
aufgebaut, und im Denken gibt es nichts Neues oder Heiliges. Das Denken
kann die komplizierten Systeme, Dogmen, Glaubenslehren aufbauen, und die
Bilder und Symbole, die es projiziert, sind nicht heiliger als die Pläne
für ein Haus oder Entwurf eines neuen Flugzeugs. All dies befindet
sich innerhalb der Grenzen des Denkens, und an all dem ist nichts Heiliges
oder Mystisches. Denken ist Materie, und es läßt sich alles
daraus machen, Häßliches – Schönes.
Doch gibt es eine Heiligkeit, die nicht aus
dem Denken kommt, und nicht aus einem Gefühl, das vom Denken geweckt
wird. Es ist weder durch Denken zu erkennen, noch kann es vom Denken benutzt
werden. Das Denken kann es nicht formulieren. Doch es gibt eine Heiligkeit,
unberührt von jeglichem Symbol oder Wort. Sie ist nicht mitteilbar.
Sie ist eine Tatsache. ...
Diese Heiligkeit hat keinen Anbeter, den Beobachter,
der über sie meditiert. Sie ist nicht auf dem Markt, um gekauft oder
verkauft zu werden. Wie die Schönheit kann man sie nicht durch ihr
Gegenteil verstehen. Denn sie hat kein Gegenteil.
Mystiker haben keine Feindbilder. Wer erkennt,
daß ALLES; was existiert seinen Grund in Gott oder in göttlicher
Einheit hat, kann nicht einmal einen Gottleugner oder Gotthasser oder Gottlästerer
hassen oder verurteilen. Die Einheit allen Seins ist ihm derart gewisse
Realität, daß ihm ein Gottleugner oder Lästerer vorkommt
wie einer, der sich am hellichten Tag auf den Marktplatz stellt und schimpft
„Die Sonne gibt es nicht“. Kaum jemand wird eine solche Aussage als beleidigend
für die Sonne empfinden.
Der persische Dichter und Reisende Saadi, der
im 13. Jahrhundert lebte und zeitweise von den Kreuzfahrern gefangen war,
drückt dies in folgendem Gleichnis aus:
UNBERÜHRT
Die Fledermaus verlangt nach Sonne nicht,
Sie schilt das goldne, ärgerliche Licht.
Schilt auch der Fledermäuse ganzer Chor:
Die Sonne bleibt doch herrlich wie zuvor.
Meister Eckehart, sagt es direkt in Bezug auf
Gott– mit der Folge, daß Papst und Kirche ihn 1329 als Häretiker/Ketzer
in Bann taten:
"In jedem Werk, auch im bösen, im Übel
der Strafe ebensosehr wie im Übel der Schuld, offenbart sich und erstrahlt
gleichermaßen Gottes Herrlichkeit.
5. Wer jemanden mit einer Schmähung lästert,
lobt Gott durch diese Sünde der Schmähung; und je mehr er schmäht
und je schwerer er sündigt, um so kräftiger lobt er Gott.
6. Wer Gott selbst lästert, lobt Gott."
Daß Glaube an Gott und Gottesleugnung Gott
selbst nicht betreffen, sondern einer beschränkten Sicht entspringen,
betonen alle Mystiker:
Und Rumi:
"Ist es nicht so, daß du, wenn du durch
verbotene Getränke oder Haschisch oder durch Musikhören
oder aus irgendeinem Grund entzückt bist - daß du zu dieser
Zeit sogar mit deinem Feind einverstanden bist und ihm vergibst und die
Neigung hast, ihm Hände und Füße zu küssen? In dieser
Stunde sind Gläubige und Ungläubige gleich in deinen Augen."
Wer so ist: "Wie sollte er irgend jemand hassen oder etwas gegen ihn vorhaben?
Gott bewahre!"
Mansur al-Halladsch
Glaube und Unglaube unterscheiden sich im Hinblick
auf den Namen (die Bezeichnung); aber im Hinblick auf die Wirklichkeit
gibt es keinen Unterschied zwischen ihnen.
Al Ghazzali, geb. im Ostiran – gilt als der größte
mittelalterliche Theologe des Islam. 1058-1111 (Wissenschaftler, Philosoph
und Derwisch) S. 60
People oppose things because they are ignorant
of them. (Die Leute lehnen Dinge ab, weil sie sie nicht kennen).
Ein schönes Beispiel, daß Ablehnung
und Abgrenzung auf Unkenntnis beruhen, gibt Rumi mit folgender kleinen
Geschichte wider:
Rumi S. 111 (um 1200-1273)
freie Übertragung: nach Idries Shah
Vier Reisende wurden in der Wüste überfallen.
Alles, was ihnen blieb, war ein einziges, kleines Geldstück. Mit großer
Mühe und Not erreichten sie eine kleine Stadt. Sie waren durstig und
hungrig. Der erste, ein Perser, sagte: „Ich möchte mit dem Geldstück
„Angur“ kaufen.“
Der zweite war ein Araber. Der widersprach und
sagte, „Nein, wir sollten „‘Anab“ kaufen.“
Der dritte war ein Türke und sagte, „Nein,
ich möchte „uzüm“.
Der vierte war ein Grieche und sagte: „Das ist
alles nichts, ich möchte „stafil“.
Ein Weiser ging vorüber und hörte
ihren Streit. Er trat zu ihnen und sagte: „Gebt mir das Geldstück!
Vertraut mir! Mit dieser Münze kaufe ich euch Angur, ‘Anab, uzüm
und stafil, so daß ihr alle zufrieden sein werdet!“
Sie gaben ihm das Geldstück, und der Weise
ging auf den Markt und kaufte ein. Als er zu den Vieren zurückkam,
brachen die Vier in Entzückensschreie aus:
„Das sind „Angur“! sagte der Perser, „nein,
das sind ‘Anab, sagte der Araber. Oh, es sind uzüm!“ freute sich der
Türke, und der Grieche biß in die erste Weintraube: das sind
stafil!
Die Sicht, die nicht aus der Erkenntnis der Ganzheit
entspringt, beschreibt Saadi in folgenden Versen:
Saadi S. 96 (1184 – 1286)
A lamp has no rays at all in the face of the
sun;
And a high minaret even in the foothills of
a mountain looks low.
(Eine Lampe verliert ihr Scheinen, wenn die Sonne
aufgeht
und ein hohes Minarett erscheint selbst zwischen
den Vorhügeln eines Gebirges niedrig.)
Damit wir aber die Sonne bzw. Gott oder das Göttliche
klar sehen können, müssen wir innerlich, nämlich mit Seele
und Geist erst frei werden:
Krishnamurti , Das Licht in dirS. 36/37
Um das Heilige, das Namenlose, Zeitlose erforschen
zu können, darf man zweifellos keiner Gruppe, keiner Religion, keinem
Glaubenssystem angehören, weil Glaubenssysteme Dinge als wahr akzeptieren,
die vielleicht überhaupt nicht existieren. Glauben bedeutet ja, das
man etwas als wahr betrachtet, ohne es durch eigenes Forschen, durch die
eigene lebendige Kraft, die eigene Energie herausgefunden zu haben.
Dschuang Dsi: Geräumigkeit
Ist das Auge frei, so sieht es klar; ist das
Ohr frei, so hört es scharf; ist die Nase frei, so riecht sie fein;
ist der Mund frei, so schmeckt er deutlich; ist die Seele frei, so erlangt
sie Erkenntnis; ist die Erkenntnis frei, so erlangt sie das Leben. Alle
diese Zugänge darf man nicht verstopfen...
Vermag die Seele sich nicht auszudehnen, so
kommen die Sinneswahrnehmungen untereinander in Streit. Der heilsame Einfluß,
den Wälder und Berge auf die Menschen ausüben, kommt größtenteils
davon, daß sie für den Geist unerschöpflich sind.
Das gleiche gilt ja auch für die Wüste,
aus der viele große Propheten und Religionsstifter hervorgekommen
sind.
Eng gestrickte Buchstabenfromme, die keine eigene,
sondern nur die abgeleitete Gotteskenntnis aus mündlicher oder schriftlicher
Überlieferung haben, leben meist in einer Welt mit strengen Unterscheidungen
von Geboten und Verboten. Nur bestimmte Dinge sind heilig, andere unheilig.
Ein Mystiker, dem in Gott alles eines ist, erscheint den Normalfrommen
oft als frevelhaft, weil er sich über alle gelernten Gebote und Verbote
hinwegsetzt. Oft tun die Mystiker dies sogar mit Absicht – und um zu zeigen,
daß Gott größer und weiter ist, als die kleinliche Enge
ihrer Glaubensgenossen. Die Gleichnisse und Taten von Jesus legen davon
beredt Zeugnis ab. Jüdische Mystiker, die Chassidim in Osteuropa,
die Gott in Freude in allem erkennen, sprechen von der Torah im Herzen.
Mystiker brechen oft mit voller Absicht Tabus,
die sich in einer Religionsform entwickelt haben, um zu zeigen, daß
der Frevel nur in den Köpfen der Menschen, nicht aber in den Dingen
liegt. Jesus opponierte und rebellierte gegen die Gesetzesstrenge der zeitgenössischen
Glaubensbrüder. Muslimische Mystiker wie Hafis, Rumi und Omar Khayyam
preisen dafür den verbotenen Wein und wehren sich ebenso gegen Gebets-
und Bußezwang:
Omar Khayyam, 11. Jh. (Nachdichtung Hans Bethges)
Gegen die Heuchelei
Nein, dieses Frommtun, diese Heuchelei
Ertrag ich länger nicht. Auf, lieber Schenke!
Füll in den Krug das Beste, was dein Keller
Bewahrt, zu meiner Seligkeit. Ich schleudre
Den Rosenkranz und Koran weit hinweg,
Um auf des Weines besserm Fundamente
Gegen die Heuchelei ins Feld zu ziehn!
Stunde des Gebets
Hört ihr? Vom schlanken Minarette
ruft
Der Küster uns zu Andacht und Gebet.
Auf Freunde! Gießen wir in die Pokale
Den besten Tropfen, den uns Gott gab, ein.
Wir wollen diese wundervolle Stunde
Des goldnen Abendlichts durch Bußetun
Und lästige Gebete nicht entweihn.
Vorsicht
Auf leisen Sohlen, um den dummen Büßern
Kein Ärgernis zu geben, schleichen wir
Der Schenke zu. Den Turban, das Gebetbuch
Versetzen wir für rosenfarbenen Wein.
Führt an der Kirche uns der Weg entlang,
Nur leise, leise, und in weitem Bogen
Vorüber, dass des Priesters blöde
Predigt
Nicht unser armes Ohr beleidigen kann
Ob die Mystiker, die wie Omar Khayyam und Hafis
den Wein verherrlichen, ihn wirklich in solchen Unmengen getrunken haben,
wie ihre Gedichte zu verraten scheinen, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Es geht ihnen auch nicht um den Wein als solchen (selbst wenn sie ihn genießen).
Es geht ihnen um die Freude am Dasein, an Gott – egal, durch welchen Teil
der Schöpfung diese Freude hervorgerufen wird. Durch die Geliebte,
den Geliebten, durch den Wein, durch den Schenkenknaben. Die „Freude des
schönen Götterfunkens“ vertreibt alle sauertöpfische Enge.
Saadi (Nachdichtung Hans Bethge)
DER PILGER
Ein Frommer, der nach Mekka pilgerte,
Warf sich im Laufe seiner strengen Wallfahrt
Zahllose Male nieder zum Gebet.
Wenn sich, indes er wanderte, ein Dorn
In seinem Fuß vergrub, ließ er ihn
stecken
Und wallte weiter, als verspürt‘ er nichts.
Er litt, jedoch in seinem frommen Dünkel
Erschien ihm gut und edel, was er machte,
Stolz war er auf sein Tun, der Törichte.
Er meinte, daß er Gottes Wege schreite;
Da, eines Tages, jählings, drang es warnend
Von unsichtbarem Munde an sein Ohr:
„Du strenger Mann der Pflicht, meinst du denn
wirklich,
Gebet und Andacht und Sichquälen seien
Die wahren Opfer auf des Herrn Altar?
Viel lieber als ein Leib, der tausendmal
Sich niederwirft, ist unserm Gott ein Herz,
Das wohlzutun und Glück zu spenden weiß.“
Für Mystiker sind nicht die äußeren
Formen, sondern die inneren Zustände, die echten Gefühle und
Empfindungen, das eigene, unmittelbare Erkennen das entscheidende. Und
durch die äußere Form hindurch erkennen sie das Gleiche und
Gleichwertige im anderen.
Übersetzung von Richard Wilhelm, Diederichs
Ausgabe, München, S. 52:
Dschuang Dsi ging einst mit Hui Dsi spazieren
am Ufer eines Flusses. Dschuang Dsi sprach: „Wie lustig die Forellen aus
dem Wasser herausspringen! Das ist die Freude der Fische.“ Hui Dsi sprach:
„Ihr seid kein Fisch, wie wollt Ihr denn die Freude der Fische kennen?“
Dschuang Dsi sprach: „Ihr seid nicht ich, wie könnt Ihr da wissen,
daß ich die Freude der Fische nicht kenne?“ Hui Dsi sprach: „Ich
bin nicht Ihr, so kann ich Euch allerdings nicht erkennen. Nun seid Ihr
aber sicher kein Fisch, und so ist es klar, daß Ihr nicht die Freude
der Fische kennt.“ Dschuang Dsi sprach: „Bitte laßt uns zum Ausgangspunkt
zurückkehren! Ihr habt gesagt: Was könnt Ihr denn die Freude
der Fische erkennen? Dabei wußtet Ihr ganz gut, daß ich sie
kenne, und fragtet mich dennoch. Ich erkenne die Freude der Fische aus
meiner Freude beim Wandern am Fluß.“
Aus dieser Freude lese ich mit Vergnügen
hier die Weingedichte, obwohl ich selbst kaum Alkohol trinke – nicht aus
religiösen oder ideologischen Gründen. Sondern weil Alkohol mich
einfach müde macht. Aber: An der Freude des Weintrinkers am Wein erkenne
ich meine Freude, die ich mit anderen Dingen oder Menschen habe.
Hafis I,18
Unser Scheich wallte gestern
Aus dem Bethaus in die Schenke
O ihr frommen Männer saget
Was ist uns forthin zu rathen?
Wie doch können wir die Jünger
Das Gesicht zur Kaaba wenden,
wenn der alte Vater Scheich
Selber in die Schenke gehet!
Ei, so lasset mit dem Wirte
Uns gemeine Sache machen!
Denn so wars von Ewigkeiten
In das Schicksalsbuch geschrieben.
Sieh ein Windhauch in die Locken
Hat die Welt für mich verfinstert!
Dieses also ist der Nutzen
den mir deine Locken bringen.
Ruhe hatte sich mein Herz
In dem Netze aufgefangen,
Sieh da rollten auf die Locken,
Und entflohen war die Beute.
Wüßte der Verstand, wie selig
Herzen in den Locken ruhen,
O es würden die Verständ'gen
Unsrer Bande wegen närrisch.
Einen Vers vom Schönheitskoran
Hat mir dein Gesicht enthüllet,
Deshalb atmen meine Verse
Hohe Schönheit, reine Anmut.
Solche Freuden werden von Frommen gerne als blasphemisch,
zumindest als sinnlich niedrig verworfen. Nur die hohe, spirituelle Geistigkeit
soll zählen. Ein Leben in großer Askese soll mehr Wert haben
als ein Leben in und mit allen Sinnenfreuden. Ein großes Mißverständnis.
Gerade die sinnenfroh daherredenden Mystiker haben oft ein einfaches, um
nicht zu sagen asketisches Leben geführt. Aber nicht weil sie sich
dazu zwangen, sondern weil sie innerlich reich und glücklich durch
das Einssein mit Gott waren und viele Dinge gar nicht nötig hatten.
Es fehlte ihnen das Interesse hierzu. Die wahren Asketen heutzutage, das
sind für mich eher die jungen Computerfreaks, die Tag und Nacht vor
ihrem Computer hocken, Programme entwerfen und testen und darüber
– wie die alten Frommen – die Welt und sich selbst vergessen. Wer sich
ganz einer Sache oder einem Menschen hingibt, braucht nicht mehr viel anderes.
Künstler sind oft solche wahren „Asketen“. Sie leben in bescheidenen
Verhältnissen und denken an ihre Werke und sonst an nicht viel anderes.
Eine erzwungene Askese, noch dazu wenn sie anderen
auferlegt wird (wie im Iran, Afghanistan und Saudi-Arabien den Frauen,
die sich nicht kleiden dürfen, wie sie wollen, die sich nicht frei
bewegen dürfen, wie sie wollen usw.), also eine Askese, die nicht
aus
einem inneren Glück getragen wird, ist nichts als Heuchelei im eigenen
Fall und Unterdrückung bzw. Nötigung im Verhältnis zu anderen.
Omar Khayyam: (Hans Bethges Nachdichtung)
Von der Freiheit
Weißt du, o Freund, warum wir die Zypresse
Den Baum der Freiheit nennen und die Lilie
Der Freiheit Blume heißt? Wohl hundert
Arme
Von stolzem Wuchs hat die Zypresse, dennoch
Greift sie nicht zu. Zehn Blütenblätter
hat
Die Lilie, das sind Zungen, dennoch redet
Sie nicht ein Wort. Ahnst du, was Freiheit ist?
Eine ganz ähnlich weite Haltung gegen das
ständige Verbieten von Frömmlern zeigt Angelus Silesius: Folgender
hübscher Vers findet sich im Cherubinischen Wandersmann:
Das ewge Ja und Nein
Gott spricht nur immer Ja; der Teufel saget
Nein,
Drum kann er auch mit Gott nicht Ja und eines
sein.
Mit dem Nein ist hier das generell auschließende,
das abstempelnde, das verbietende Nein gemeint. Also ein Nein, das andere
Religionsformen nicht anerkennt, ein Nein, das eigenes Denken und Erkennen
nicht zulassen will und die freie Rede verbietet, ein Nein, das Frauen
nicht die gleichen religiösen Rechte wie den Männern zugestehen
will – sie also nicht zu Priesterinnen, Rabbinerinnen oder Mullahs zuläßt.
Ein Nein, das Frauen in schwarze stickige Tschadors zwängt. Immer
mit der Begründung, das sei Gottes Gebot.
Im großen Ja Gottes zu allem, wird der
Mensch nicht gebunden und bindet seinerseits andere nicht..– Das ist die
Erkenntnis der Mystiker:
Abu’l-Husain an-Nuri, Bagdader Sufikreis, gest.
907/8
Jener ist ein Sufi, der nichts bindet und durch
nichts gebunden wird.
Dschunaid, Haupt des Bagdader Sufikreises, gest.
910 wurde gefragt:
„Wer ist Gottes Sklave?“ und antwortete: „Es
ist jener, der vom Sklaventum aller anderen frei geworden ist..“
Meister Eckhart:
S, 300
Der gerechte Mensch dient weder Gott noch den
Kreaturen, denn er ist frei; und je näher er der Gerechtigkeit ist,
um so näher ist er der Freiheit und um so mehr ist er die Freiheit
selbst.
Krishnamurti, Einbruch in die Freiheit, S. 61
Freiheit kommt nur, wenn Sie sehen und handeln
– niemals durch Revolte. Das Sehen ist Handeln, und eine solche Handlung
ist so unmittelbar, wie wenn Sie eine Gefahr wahrnehmen.
Freiheit ist ein Zustand des Geistes – nicht
die Freiheit von etwas, sondern das Gefühl der Freiheit, der Freiheit,
alles anzuzweifeln und in Frage zu stellen, und zwar so intensiv, aktiv
und kraftvoll, daß sie jede Art von Abhängigkeit, Sklaverei,
Anpassung und Anerkennung von sich wirft.
S. 103
Der religiöse Mensch ist etwas ganz anderes
als der Mensch, der einen religiösen Glauben hat. Sie können
nicht religiös und zugleich ein Hindu, ein Moslem, ein Christ, ein
Buddhist sein. Ein religiöser Mensch sucht überhaupt nicht, er
kann nicht mit der Wahrheit experimentieren. Wahrheit wird nicht durch
ihre Freude oder Ihr Leid bestimmt oder durch Bedingtsein als Hindu oder
welcher Religion Sie sonst angehören mögen. Im geistigen Zustand
des religiösen Menschen gibt es keinerlei Furcht und daher keinerlei
Glauben, sondern nur das, was ist – was tatsächlich ist.
Omar Khayyam bekennt seinen Glauben so: (Nachdichtung
Hans Bethges S. 76)
Glaubensbekenntnis
Ich zieh es vor, mit einem hübschen Mädchen
Die Zeit in einem Weinhaus zu verplaudern
Als ohne sie zu beten in der Kirche.
Und ich bin kühn genug, verzeih mir, Gott,
Dies ehrliche Bekenntnis meines Glaubens
Dir vorzutragen ohne Scham und Scheu.
Dieser Abend ist den Hinterbliebenen der ermordetenen
iranischen Schriftsteller und Intellektuellen gewidmet. Aber auch hierzulande
feiert enges theologisches Denken immer noch fröhliche Urständ.
Oder können Sie sich vorstellen, daß Jesus, als er sich mit
Huren, Zöllnern und sonst verachteten Outcasts an den Tisch setzte,
diese erst nach dem richtigen Glaubensbekenntnis fragte? Die Zeitungen
sind voll davon, ob Katholiken und Protestanten gemeinsam das Abendmahl
feiern können. Glauben Sie, für Jesus oder einen Mystiker wäre
das überhaupt nur eine Frage wert?
Hafis 1326-1390
Der Diwan, Band I, 3
Der Mond der Schönheit borgt sein Licht
Von deiner Wangen Strahlen,
Der Glanz der Anmuth strahlet aus
Von deines Kinnes Grübchen.
Kann mein versammeltes Gemüth
Mit deines Haares Locken,
Die ganz zerstreuet sind, o Gott!
Sich je zusammen finden.
Des Sinnes dich zu schauen kam
Mein Geist auf meine Lippen,
Soll er entfliehn? soll er zurück?
Was ist dein Herrscherwille?
Was nützet die Enthaltsamkeit
Dem, der dein Auge sah?
Viel besser ists, die Nüchternheit
Dem Trunknen nicht verkaufen.
Mein träges Glück, das lange schlief,
Ist endlich aufgewachet,
Der Schimmer deines Angesichts
hat ihm ins Aug’ geblitzet.
Horcht auf! es betet nun Hafis.
Sagt Amen, denn er betet.
Herr! gieb uns unser täglich Brod
Vom Zucker ihrer Lippen.
Omar Khayyam (Nachdichtung Hans Bethges)
Die Gegensätzlichen
Wie lange noch, du frömmelnder Asket,
Wirst fluchen du auf mein bescheidnes Glück,
Das mir dein neidgeschwollnes Herz missgönnt?
Sehr anders sind wir beide, das ist wahr:
Du heuchelst frommen Sinn beim Rosenkranze,
Ich trinke Wein und denke nichts als Liebe
Mit den beiden letzten Gedichten von Hafis und
Omar Khayyam sind wir beim entscheidenden Moment der Mystik und der meisten
Mystiker angelangt: Bei der Liebe..
Gisela Wendt schreibt in ihrem Büchlein
über Fariddudin Attar (gest. 1220 (Nischapur): Der Mystiker lehrt
lieben: den Nächsten, sei es auch ein Dieb, das Tier lieben, sei es
auch ein Löwe, Diese Glut der Liebe entfacht die Gottesliebe: Hätte
Gott uns nicht zuerst geliebt, könnten wir nicht lieben.
S. 329 ( 54) Rumi
Aber Liebe für den Schöpfer ist in
aller Welt und allen Geschöpfen, seien sie Zoroastrier, Juden oder
Christen; sie ist in allem, was existiert, latent. Wie sollte jemand nicht
Den lieben, der ihm Dasein geschenkt hat? Doch Hindernisse verschleiern
diese Liebe; wenn diese Hindernisse verschwinden, dann wird die Liebe offenkundig.....
Und nichts besteht, das nicht Sein Lob verkündet. (sure 17/44)
„Er nur allein, kein Partner!“ stets bekennend.
Ibn Arabi, geb. in Murcia, Spanien, gest. in
Damaskus 1240 (Gärten S. 143)
Mein Herz ward fähig, jede Form zu tragen:
Gazellenweide, Kloster wohlgelehrt,
Ein Götzentempel, Kaaba eines Pilgers,
Der Tora Tafeln, der Koran geehrt:
Ich folg’ der Religion der Liebe, wo auch
Ihr Reittier zieht, hab’ ich mich hingekehrt!
Omar Khayyam (Nachdichtung Hans Berhges)
Viel köstlicher
Viel köstlicher als aller Ruhm der Erde
Ist’s, einen Trunk aus vollem Glas zu tun;
viel köstlicher und Gott gefälliger
Als frommes Plappern ist der Hauch des Glückes,
Der leis vom Munde der Verliebten weht.
Rumi (Rubayat) drückt es ebenfalls dichterisch
aus:
S. 58 (Wendt Rubayat)
Sind die Liebenden beisammen,
alles anders ist;
Trunkenheit vom Wein der Liebe
völlig anders ist,
Jenes Wissen, das an Schulen
man erlernen kann,
Anders ist als jenes Wissen,
das die Liebe ist.
Saadi (Nachdichtung Hans Bethge)
VERSCHIEDENE AUGEN
Das Auge dessen, der dir übel will,
Wird deines Herzens hellste Tugenden
Doch immer nur als dunkle Laster sehn.
Der Liebende jedoch, wenn du mit Lastern
beladen bist und hast nur eine Tugend,
Sieht deiner Sünden nicht die kleinste
Spur.
Angelus Silesius (Cherubinischer Wandersmann)
Die Liebe
Die Lieb ist unser Gott, es lebet all’s durch
Liebe;
Wie selig wär ein Mensch, der stets in
ihr verbliebe!
Das Schnellste
Die Lieb ists schnellste Ding, sie kann für
sich allein
In einem Augenblick im höchsten Himmel
sein.
Die Liebe ist Gott gemeiner als Weisheit
Die Liebe geht zu Gott unangesagt hinein,
Verstand und hoher Witz muß lang im Vorhof
sein.
Dieser letzte Vers des Angelus Silesius drückt
es klar aus, was alle Mystiker wissen:
Mit dem Verstand schafft man es nicht, ja nicht
einmal mit Klugheit. Nicht Dummheit aber bahnt den Weg oder das Sacrificium
intellectus (das Selbstopfer des Verstandes), wie mancher vermutet, wenn
er solche Worte hört wie: Credo quia absurdum. Die Einheitserkenntnis
übersteigt schlicht die Möglichkeiten des Verstandes.
Ein Beispiel aus der Alltagswelt: Man muß
Flügel haben oder einen Raketenantrieb, um fliegen zu können.
Ein Auto oder eine Eisenbahn können nicht fliegen. Das bedeutet nicht,
daß sie keinen Wert haben. Man braucht sie als Transportmittel auf
der Erde. Man muß nur wissen, welches Instrument man für welche
Zwecke einsetzt.
Lassen Sie mich das folgende Bild gebrauchen:
Von der Ganzheit zu reden, ist, als ob man mit weißer Tinte auf weißes
Papier schreiben wollte – oder mit schwarzer Tinte auf eine schwarze Unterlage.
Denn nur dann bleibt man in der Einheit. In dem Moment, wo man als Mittel
den Kontrast verwendet und weiß auf schwarz oder schwarz auf weiß
schreibt, ist man schon in der Trennung und Unterscheidung. Es ist nicht
mehr das Ganze.
Krishnamurti drückt es so aus:
Das Licht in dir S. 36/37
Das Denken hat nichts Heiliges, wie sehr sich
der Verstand auch anstrengen mag. Es ist ein materieller Prozeß,
so wie auch wir Materie sind. Das Denken hat die Menschen voneinander getrennt,
hat sie in Religionen und Nationalitäten eingeteilt. Das Denken entspringt
dem Wissen, und Wissen ist niemals vollständig, deshalb wirkt sich
das Denken immer trennend und begrenzend aus. Doch jegliche trennende Aktivität
muß zu Konflikten führen: zwischen Kommunisten und Kapitalisten,
zwischen Arabern und Juden, zwischen Hindus und Moslems....
und im Notizbuch S. 15
Das Denken kann die komplizierten Systeme, Dogmen,
Glaubenslehren aufbauen, und die Bilder und Symbole, die es projiziert,
sind nicht heiliger als die Pläne für ein Haus oder Entwurf eines
neuen Flugzeugs. All dies befindet sich innerhalb der Grenzen des Denkens,
und an all dem ist nichts Heiliges oder Mystisches.
Meiner Meinung nach ist auch Denken etwas Heiliges,
denn es gehört genauso zur Schöpfung wie die Rose und die Nachtigall.
Oder wie eine Kirche, eine Moschee oder ein Tempel. Aber sollte das einzelne
niemals verabsolutieren und damit vergötzen. Auch nicht Heilige Schriften.
Mystiker zeigen keine allzu große Ehrfurcht
vor heiligen Büchern. Denn auch heilige Bücher geben immer nur
eine Facette des Göttlichen wider. Es ist immer schon eine Aufsplitterung.
Wie ein Lichtstrahl, der im Wasser oder Glas in die Farben des Regenbogens
zerstreut wird. Das Ganze umfaßt aber Licht UND Schatten, Himmel
und Hölle. Die äußere Form ist relativ und kann immer nur
auf das Absolute hinweisen, es aber niemals aussprechen. Alle Mystiker
sprechen davon, wie schwierig es ist, jemandem, der nicht Ganzheitsschau
hat oder hatte, die Bedeutung zu erklären. Wie der Philosoph des 20.
Jahrhunderts
Ludwig Wittgenstein im Tractatus Logico philosophicus
(Wovon man nicht sprechen kann, darüber
muß man schweigen).
Mansur Al-Halladsch sagt sogar:
Wer behauptet, er erkläre Gott als Einen,
der hat ihm bereits etwas zugesellt.
Und an anderer Stelle: Mansur Al-Halladsch
Wer Ihn kennt, beschreibt Ihn nicht, und wer
Ihn beschreibt, kennt Ihn nicht.
Lao Tse:
Der Sinn, der sich aussprechen läßt,
ist nicht der ewige Sinn
und Dschuang Dsi
Der Sinn, von dem man reden kann, ist nicht
der Sinn.
Krishnamurti, Das Notizbuch, S. 191
Freisein vom Wort und ihm nicht allzuviel Wichtigkeit
beimessen, sehen, daß das Wort nicht die Sache und die Sache nie
das Wort ist, nicht in den Untertönen des Wortes verhaftet sein und
doch Worte sorgsam und verständnisvoll gebrauchen; sensibel sein für
Worte und nicht von ihnen beschwert sein, die Schranke der Worte durchbrechen
und die Tatsache ins Auge fassen, das Gift der Worte meiden und ihrer Schönheit
nachspüren, alle Identifikationen mit Worten ablegen und sie untersuchen,
denn Worte sind eine Falle und eine Schlinge. Sie sind Symbole und nicht
das Wirkliche. Der Schleier der Worte dient zum Schutz für die Faulen,
Gedankenlosen und für den betrügerischen Geist. Versklavung durch
Worte ist der Anfang des Nichthandelns, das vielleicht den Anschein des
Handelns hat, und ein Geist, der in Symbolen befangen ist, kann nicht weit
kommen.
Angelus Silesius im Cherubinischen Wandersmann:
Schrift ohne Geist ist nichts
Schrift ist Schrift, sonst nichts. Mein Trost
ist Wesenheit;
Und daß Gott in mir spricht das Wort der
Ewigkeit.
In der Liebe, jenseits aller Worte und Beschreibungen,
findet man das Eigentliche – die Liebe:
Rumi (Rubayat, Gisela Wendt) S. 43
Fern von Unglaube und Glaube
eine Wüste liegt;
Mitten in der offnen Wüste
unsre Liebe liegt.
Wissende, die sie erreichen,
sinken in den Staub –
Fern von Unglaube und Glaube,
Raum und Zeit sie liegt.
Omar Khayyam (in der Nachdichtung
Hans Bethges)
Über allem die Liebe
Wenn tief in deiner Brust die Liebe wohnt,
So ist es gleich, ob du zu Allah betest
Oder zum Gott der Ketzer: ward dein Name
Ins goldne Buch der Liebe eingetragen,
Unwichtig ist dir’s, ob du einst belohnt
Oder bestraft wirst in der Ewigkeit.
Schluß Hafis, mit dem ich begonnen hatte:
Diwan Band I, 116
Der Weise hat im Glanz des Weins
Verborgenes erkannt
Denn es wird Jedermanns Natur
Durch diese Perl erkannt
Den Wert der Rose hat allein
die Nachtigall erkannt.
Nicht jeder, der ein Blättchen liest,
Hat auch den Sinn erkannt.
Die beiden Welten bracht ich dar
Dem vielerfahrnen Herz;
Es hat nur deiner Liebe Wert,
den Rest für nichts erkannt.
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