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Adolf Muschg über Hafis: (FAZ 30.10.2001) Gegen
Macht
und Übermacht liest man Hafis Vor mir liegt der "Westöstliche Divan", aufgeschlagen beim Titel "Vergleichung" in den "Noten und Abhandlungen". Seit zehn Minuten warten wir auf Herrn D. Barrierentraktat, Extrablätter, Kardinäle, Nebenrezeß, Billard, Bierkrüge, Reichsbänke, Sessionsstühle, Prinzipalskommissarius, Enthusiasmus, Zepter-Queue, Bruststücke, Eichhornbauer, Agioteur, Schmutzfink, Inkognito, Kolloquia, kanonischer Billardsack, Gipsabdruck, Avancement, Hüttenjunge, Naturalisationsakte, Pfingstprogramm, maurerisch, Manualpantomime, amputiert, Supranumerar, Bijouteriebude, Sabbaterweg u.s.f. Den Basar kurioser Wörter hat Goethe aus dem zehnten "Hundsposttag" von Jean Pauls "Hesperus" herausgepickt. "Wenn nun diese sämtlichen Ausdrücke einem gebildeten deutschen Leser bekannt sind oder durch das Konversations-Lexikon bekannt werden können, gerade wie dem Orientalen die Außenwelt durch Handels- und Wallfahrtskarawanen, so dürfen wir kühnlich einen ähnlichen Geist für berechtigt halten, dieselbe Verfahrungsart auf einer völlig verschiedenen Unterlage walten zu lassen." Gedruckt 1819 als Legende zu einer virtuellen Morgenlandfahrt des inzwischen Siebzigjährigen. Er "gewältigte" die europäische Sintflut, indem er sich dem "reinen Osten" zuwandte, in der Rolle des Kindes, das mit einer Muschel den Ozean in sein Grübchen schöpfen will. Der poetische Teil des verjüngenden Maskenspiel war absolviert, auch wenn nur sein biographischer Teil, das "Buch Suleika" (mit den Gedichten der Spielgefährtin Marianne von Willemer), als "abgeschlossen gelten" konnte. Ein unerledigtes Geschäft blieb das Aperçu des österreichischen Hafis-Übersetzers Joseph von Hammer: Als besten deutschen Annäherungswert an die persische Poesie sei ein gewisser Jean Paul zu betrachten. Ausgerechnet Jean Paul, von dem Goethe zu seinen Klassiker- Zeiten nur (so sein Freund, der Kunscht-Meyer) ein paar Seiten zu lesen brauchte, daß ihn ein Ekel überkam, "und er müsse das Buch weglegen". Aber nachdem Napoleon die Welt aus den Angeln gehoben und der Wiener Kongress sie schief genug wieder eingerenkt hatte, konnte sogar aus Jean Paul, dem "personifizierten Alpdrücken der Zeit" (an Riemer, 1807) "unser so geschätzter als fruchtbarer Schriftsteller" werden, "ein wohldenkender Mann", in dessen Nähe "man sich behaglich fühlt". Jetzt, Oktober 2001, hat die kleine Gesandtschaft deutschsprachiger Schriftsteller auf dem "künftigen Divan" Platz genommen, den der Meister 182 Jahre früher bereitgestellt hat. Vergangenen Juni zettelten Tim Guldimann (der Schweizer Botschafter) und ich anläßlich einer Audienz im Kulturministerium spontan ein Goethe-Hafis-Symposion an, bevor (!) Präsident Khatami bei seinem Deutschland-Besuch in aller Form zum "Dialog der Kulturen" aufrief. Damit die zwei leeren Stühle, die er in Weimar einweihte, kein bloßes Denkmal bleiben, sitzen wir jetzt in Schiraz zwei iranischen Kollegen gegenüber und warten auf den dritten, Herrn D. Ich blicke durch die Lücke auf der anderen Tischseite geradewegs auf Hafis' Grab, einen offenen runden Pavillon, dem die Stadt zu Füßen liegt, in das noch kaum gedämpfte Herbstnachmittagslicht getaucht, auf allen Seiten von wüstenartigen Anhöhen gesäumt. Der Zeithintergrund paßt besser, als uns lieb ist: Seit dem 11. September geht die Welt unter, wie zu Goethes Zeiten das alte Europa, wie aber auch im vierzehnten Jahrhundert Hafis' Persien im Mongolensturm. Seit dem Tag unserer Ankuft suchen nebenan in Afghanistan smarte Bomben passende Ziele. Dagegen ist Jean Pauls kalter Wörtersalat die reine Schonkost. Zu Hause weiß ich einen lieben Kollegen, der den Speicher seines Taschencomputers schon immer mit Jean-Paul-Zitaten füllte, um, auf Abruf sozusagen, zu überleben. Das praktizieren die Perser seit siebenhundert Jahren mit ihrem Hafis. Goethe stach sich mit der Nadel Botschaften zur Lebenshilfe aus dem "Divan"; jetzt erfahren wir, daß man im Iran bis heute das Hafis- Orakel befragt, vom religiösen Führer des Landes bis zum Müllmann. Und vor allen andern die Liebenden. Hafis genießt als Dichter der Liebe im nichtarabischen Persien kaum geringere Autorität als der heilige Koran, dem der Dichter seinen Ehrennamen "Hafez" verdankt. Nur: Dieser "Bewahrer des Korans" verfügte über 99 Lesarten von Allahs Wort, und über vier gleichermaßen bindende Kommentare dazu. Als verfügte keiner über ihn, und seine Poesie blieb vergleichsweise ungebunden. Dank ihres Zaubers darf das Wort auch in Volkes Munde immer wieder werden, was es bei Hafis von Haus aus war: fromm, frech und frei. Keiner habe Hafis tiefer begriffen als Goethe, hat Herr D. gestern beteuert; man könne sich zwischen den Kulturen keine bessere Brücke denken. Denn zuerst trage sie von Mensch zu Mensch, Herr D. hat wegen Frechheit und Freiheit im Gefängnis gesessen. Und wäre fast wieder dort gelandet, wie andere Intellektuelle seines Landes, die an der Berliner Tagung der Böll-Stiftung teilgenommen haben. Die grünen Veranstalter haben unvermeidliche Protestler weder am Ausstoßen regimefeindlicher Parolen noch am Entblößen roter Unterwäsche zu hindern gewagt. Für soviel schöne Liberalität haben ihre Gäste, als sie nach Hause kamen, teuer bezahlt. Inzwischen sei, grinste Herr G., das Gefängnis unter Schriftstellern so beliebt, daß man rechtzeitig buchen müsse, um wieder einmal in Ruhe schreiben zu können. Die Bücher D.s, die ich vor der Reise gelesen habe, handeln von Menschen in der bitterarmen Provinz, und der Reichtum an Grautönen, mit denen er arbeitet, strahlt eine fast faszinierende Hoffnungslosigkeit aus. Ein Meister. Er darf auf sich warten lassen. Tim Guldimann greift zum Handy; ich bin ein wenig stolz auf einen Schweizer Diplomaten, der auf persisch fließend schimpfen kann. D.s Kollegen bewahren gute Miene; Magnus probiert auf dem Blatt, das ich ihm geliehen habe - er scheint ohne Gepäck zu reisen - Wörter wie "Kuckuck" in allen denkbaren Schriftarten aus. Raoul unterhält sich mit einer Mitarbeiterin der Botschaft; im Rahmen ihres schwarzen Kopftuches ist sie das Bild einer schönen Frau. Mit den persischen Kollegen rennt Guldimann offene Türen ein. Hafis, ein ketzerischer Autor? dessen Verse, der Fatwa ausgesetzt, im Samisdat zirkulieren mußten? Allah sei Dank! Wie sonst hätte er seiner Kultur so viel bedeuten können? Wieviel, haben wir am Vorabend erlebt, an der freien Luft, und saßen dabei in der ersten Reihe. Die Stadt feiert Hafis' 700. Geburtstag in der Gartenanlage vor seinem Grab mit einer Art Weihefest-Musical. Voraus ging ein Redemarathon, bei dem auch wir drei Zugeflogenen einigen tausend Zuschauern unsere Grußbotschaft ausrichten durften. Der Zufall hatte mich neben die bildschöne Dolmetscherin gesetzt, die mir, die Lippen an meinem Ohr, hineinschrie, was ich auf der Bühne sehen, doch nur ausnahmsweise verstehen konnte. Schreien war notwendig, weil wir dicht neben einem Lautsprecher saßen, und so hatte auch der Körperkontakt, in dem wir beim Dialogisieren gerieten, überaus sachliche Gründe. Immerhin schien mir seine Unbefangenheit im bemerkenswerten Kontrast zum Verbot zu stehen, einem weiblichen Wesen auch nur die Hand zu reichen. Auch hier gehörte zu den Themen, in die meine Nachbarin und ich diskret brüllend vertieft waren, unvermeidlich die Person des Herrn D. Er saß mit seinem gesträubten fuchsfarbenen Schnauzbart im charaktervoll entfleischten Steppenreitergesicht nur wenige Sitze entfernt im Rampenlicht, und seine wasserhellen Augen sprühten. Er sei Kandidat für den ersten persischen Nobelpreis, hauchte mir die Schöne überlaut ins Ohr, vielleicht erhalte er ihn schon dieses Jahr. Aber nun fehlte er immer noch. Ich blickte durch die offene Tür auf das luftige Dichtergrab in der Nachmittagssonne. Es war wieder entvölkert, bis auf eine Gruppe junger Frauen, die sich in ihrer Nonnentracht um den Sarkophag sammelten, einen schlichten Alabasterkasten. Aber er stand nicht im Zentrum des Gedränges, das immer neue Mädchen anzog. Plötzlich sprang die Runde auf, und eine männliche Gestalt wand sich heraus, die mit jedem Schritt, den sie in unsere Richtung tat, unverkennbarer wurde. Kein anderer als Herr D. hatte sich, wie Orpheus den Mänaden, der Umarmung seiner Leserinnen entrungen, schon konnte man seinen Husarenbart wippen sehen. Während er seinem versäumten Arbeitsplatz entgegenhüpfte, rückte er sich die Krawatte auf dem gelben Seidenhemd zurecht, winkte mit der Hand, konnte gar nicht aufhören zu erscheinen und war schließlich da, ganz und gar. Für die Verspätung machte er Dichterschicksal geltend: so viele Küsse, die er sich von seinen Fans hatte gefallen lassen müssen! Küsse? Wir hatten uns nicht verhört, er trug die Spuren der Zumutung deutlich im Gesicht. Aber fast unvermittelt lag dieses wieder in den tiefen Falten, die der Dialog der Kulturen, noch mehr: die Trauer über seine eigene gebot, und war dabei keine Spur weniger glaubwürdig. Gegen Macht und Übermacht, Gewalt und Zerstörung liest man in Persien den Hafez, wie er selbst den Koran gelesen hat: mit der nötigen - dem Leben unter allen Umständen nötigen - Vieldeutigkeit. In ihr findet man etwas von dem mehrfachen Sinn wieder, den der allmächtige Gott seinen Geschöpfen mitgegeben hat und auch die heiligste Lesart Seiner Schrift nicht verkürzen darf, wenn sie vor den profanen Widersprüchen des Lebens bestehen soll. Subtile Lektüre von Gottes doppelter Buchführung mag nicht die Kraft haben, Unglück abzuwenden, oft nicht einmal: das Leben zu retten. Aber sie rettet seinen Doppelsinn, "des Lebens Leben", das Goethe in seinem Divan "Geist" genannt hat. Um - beispielsweise - den mehrfachen Sinn des Tschador kennenzulernen, muß man eine emanzipierte Iranerin reden hören: Ohne das "Symbol der Unterdrückung" wäre es keinem Mädchen - schon gar nicht auf dem Lande - von Vater und Brüdern erlaubt worden, Haus und Hof unbegleitet zu verlassen, um ihren eigenen Weg zu suchen, in der Berufslehre oder an der Universität. Oder, nochmals beispielsweise: Der landläufige Männerblick kann eine Frau nicht ansehen, ohne zugleich ihre Figur zu taxieren. Auch wenn diese "vorteilhaft" sein sollte: Die Tyrannei dieser Abschätzung können viele Frauen entbehren. Das im schwarzen Rahmen gezeigte weibliche Gesicht verlangt nicht nur einen anderen Blick, es erlaubt ihn auch. Bin ich für Schönheit jemals so ungezwungen aufmerksam gewesen wie in Iran, wo sie mir in dieser konzentrierten, für jede Schattierung des Ausdrucks empfindlichen Form begegnete? Die Kultur des Austauschs zeigt sich in der Verknappung des Angebots, nicht in seiner Inflation. Den Abschluß der Tage in Schiraz bildete eine gemeinsame Lesung aller sechs beteiligten Schriftsteller in einem Theatersaal. Der Applaus begann schon, bevor wir die Bühne betraten, und beim Auftritt Herrn D.s steigerte er sich zur Ovation. Sein älterer Kollege las ein Stück vor, das nur aus klagenden A-Lauten zu bestehen schien; da sprang D. auf und umarmte ihn lange. Als er auf seinen Stuhl zurückgekehrt war, tropften ihm Tränen auf das Manuskript, was ihn nicht hinderte, mit mächtigem Baß daraus vorzutragen. Es war das letzte Wort des Abends, und was hätte Herr D. anderes sagen und singen können als ein Lob Goethes? Lieblos betrachtet, war es nichts weiter als eine Vorstellung seiner Lebens- und Werkdaten; geistvoll vorgetragen, war es die Legende eines Wunders, das sich weit weg, in einem westlichen Paradies der Weltseele, zugetragen hatte und dem, außer Ehrfurcht, nichts beizufügen war. Goethe hatte Hafis verstanden, und in diesem Geist verstanden nun auch wir einander, dankbare Söhne und Töchter von beiden. Das Publikum bestand überwiegend aus Töchtern, und so ereignete sich das nächste Wunder: Fast alle stürmten sie die Bühne und deckten uns förmlich zu. Sie drängten auf unsere Schriften, wenigstens Unterschriften, auf unsere Adressen, selbstverständlich E-Mail. So schrieben die Schriftsteller ihren Namen auf die hingehaltenen Programmränder, überwältigt von einem schwarzen Getümmel, das ihnen kaum genug Raum ließ, die Ellbogen zu spreizen. All diese schönen Mädchen kannten uns nicht, die wenigsten konnten uns lesen, aber sie hatten uns gehört und gesehen, und schon waren sie unsere Fans. Wehe dem Land, das soviel Liebe zu den Dichtern nötig hat! Herrn D., der in der schwarzen Welle untergegangen war, mögen sie wieder geküßt haben - doch angefaßt, das werde ich noch am Jüngsten Gericht beschwören, angefaßt hat uns nicht eine. Erst als ich, wieder in Teheran, Bilder des Fußballspiels Iran - Irak sehe, das, obwohl es (Allah sei gepriesen) 2:1 ausgeht, einen bedrohlichen Volksauflauf hervorruft, fällt mir auf, daß auch die außerislamische Welt ein Spiel kennt, in dem es (außer dem Torhüter) verboten ist, Hände zu gebrauchen. Mit allen Mitteln darf der Ball transportiert werden, außer denen, die eigentlich dafür geschaffen sind. Sollte es seinen Reiz, seine weltweite Popularität gerade dieser künstlichen Invalidität verdanken, die einen um so besser gekonnten, manchmal akrobatischen Einsatz des übrigen Körpers gebietet und eine elaborate Mannschaftsorganisation? Sind die elf Freunde auf dem Platz so etwas wie die Antwort des Westens auf den Prätext des Korans, wie geschaffen für wahre Meister des Spiels wie Hafis oder wie heute unser Freund D.? Oder wie Jean Paul? Was hat Schillers kollegiale Zunge über den "Tragelaphen" (teils Hirsch, teils Elefant) Juni 1796 nach Weimar zu melden gewußt? Dieser sei "herzlich geneigt, die Dinge außer sich zu sehen, nur nicht mit dem Organ, womit man sieht". Quod erat demonstrandum, so schließt sich der Kreis - und runde sich ein Vergleich, zu dem Goethe seinen Segen gesprochen hat, nicht ohne den kameralistischen Stil seines Alters zu würzen mit der Ironie des Schlingels: "Gestehen wir also unserem Schriftsteller zu, daß er, in späteren Tagen lebend, um in seiner Epoche geistreich zu sein, auf einen durch Kunst, Wissenschaft, Technik, Politik, Kriegs- und Friedensverkehr und Verderb so unendlich verklausulierten, zersplitterten Zustand mannigfaltigst anspielen müsse, so glauben wir ihm die zugesprochene Orientalität genugsam bestätigt zu haben." Hans Magnus
Enzensberger hat es schon anders gesagt, aber, glaube
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Stand: 2021 |