Beiträge zur geistigen Situation der Gegenwart
Jg. 5 (2004), Heft 3
Hans Bethge: Nachdichtungen orientalischer Lyrik Band VIII: Omar Khayyam. YinYang Media Verlag, Kelkheim 2003, 140 + XI Seiten, ISBN 3-935727-01-1, 12,50 €
Hans Bethge: Nachdichtungen orientalischer Lyrik Band II: Die Lieder und Gesänge des Hafis. YinYang Media Verlag, Kelkheim 2004, 127 + XI Seiten, ISBN 3-935727-03-8, 12,50 €
Der Diwan von Mohammed Schem-din Hafis. Aus dem Persischen zum ersten Mal ganz übersetzt von Joseph von Hammer-Purgstall. Reprint der deutschen Erstausgabe von 1812/13,YinYang Media Verlag, Kelkheim 2002, 2 Bände, 454 und 574 Seiten, ISBN 3-9806799-3-4, je Band 24,90 €
I
Die zweibändige Ausgabe der Hafis-Übersetzung von Joseph von Hammer liegt bereits seit längerem im YinYang Media Verlag Regina Berlinghofs vor. Nun jedoch ist auch die Bethge-Nachdichtung von Hafis’ Lyrik im selben Verlag erschienen. Wie häufig, so greift Bethge auch hier Vers-Einheiten aus einem größeren Zusammenhang heraus und gibt ihnen einen Titel. Man mag dieses Verfahren unstatthaft finden, es hat jedoch einen unleugbaren Vorteil: das kleine Buch verführt zum Blättern und Lesen, man stößt sofort auf beeindruckende, ja überwältigende Zeilen - wohingegen der Zugang zur Überfülle der von Hammer-Übersetzung natürlich mühsamer ist. Wer jedoch die Hafis-Nachdichtungen Bethges durchgesehen hat, wird nun, neugierig geworden, unfehlbar zu den anderen Bänden greifen.
Derselbe skeptisch-freie Geist, der die Hafis-Gedichte prägt, findet sich auch im Werk des zwischen 1025 und 1050 in Nischapur geborenen Omar Khayyam: "Er sah Gott in allem, aber gegen den außerirdischen Gott, den er nicht erblickte, war er skeptisch gesinnt. Er war ein Pantheist, ein irdisch fühlender Weiser, ein überlegen lächelnder Betrachter der Welt, der Gottheit und der Menschen, ein Freund des Weines, preisend den Genuss des holden Augenblicks und ohne Furcht vor dem Tode" ( aus dem Geleitwort von Hans Bethge, S. 134). Betrachten wir einige Beispiele dieser Sinnesart:
Sünden
Du hast die Schlange uns beschert im
Paradiese,
Du suchst uns, Gott, durch schreckliche Versuchung heim;
Vergib die Sünden, die belasten unser Leben, -
Auch deine Sünden seien dir vergeben!
(S. 126)
Himmel und Hölle
Den Himmel hat der Mensch sich selbst
erschaffen
Aus dunkler Sehnsucht. Doch was ist die Hölle?
Ein Schatten, den voll Bangnis unsere Seele
In jenen Abgrund wirft, aus dem wir kamen,
Und der von neuem uns verschlingen wird.
(S. 125)
Der Gott vergebende Mensch - das ist nicht nur eine schalkhafte Umkehrung des uns sonst Verheißenen; vielmehr wird, durch das Bild der wechselseitigen Vergebung, eine ungeheure Befreiung initiiert. In diesen vier Zeilen entsteht eine geistige Haltung, die eine Welt ohne Sündenbegriff entwirft. Himmel und Hölle, sagt das zweite Gedicht, sind genauso, wie Gott selber, Vorstellungen der Menschen. Die Heiterkeit jedoch, die entstehen kann, wenn die religiösen Schuldvorwürfe und Anklagen sich auflösen, muss sich mit der Einsicht in die absolute Endlichkeit unserer Existenz verbinden.
Es gibt Zeilen von Omar Khayyam, die von einem schwärzesten Nihilismus durchdrungen sind:
Dunkelste Erkenntnis
Da nichts auf dieser unvollkommnen Erde
Nach meinem Wunsch geschieht, - was soll ich länger
Mich quälen und zermartern mir das Hirn?
Was mich erfüllt,
ist dunkelste Erkenntnis:
Vor kurzem kam ich, bald werd ich entschwinden,
Dies ist das einzige Wort, das Wahrheit ist.
(S. 83)
Nichts
Du hast die Welt durcheilt:
was deine
Augen erblickten, es war nichts. Es drang gar vieles
In dein Gehör, - im letzten war es nichts.
Du hast das Universum voll Verlangen
Durchforscht nach Klarheit, - du erkanntest nichts.
Du hast dich still in deines Zimmers Winkel
Zurückgezogen, - und auch das war nichts.
(S. 51)
Schon ins Unheimliche geht das von Bethge "Rätselhaft" betitelte Gedicht ("Wie ist es möglich, dass derselbe, der / Des Bechers Schönheit schuf, ihn auch zerbricht? All diese edeln, lockenschweren Häupter, / All diese süßen, hochgebauten Glieder, / Von welcher Liebe wurden sie geschaffen, / Und welcher dunkle Hass zertrümmert sie?", S. 84). Es zeigt einen Gott, der gleichmütig schafft und zerstört und jeden menschlichen Sinn-Begriff lächerlich einseitig erscheinen lässt. "Der unbegriffene Gott" (S. 86) zieht den bitteren Schluss: "Fruchtlos ist unsre Mühe dich zu finden, / Mein Gott, denn wir sind stümperhafte Wesen; (...) Dein Name tönt, - doch unser Ohr ist taub, / Du zeigst dich uns, - doch unser Aug ist blind."
Solcher Verzweiflung jedoch stehen Rausch- und Inspirationserlebnisse entgegen:
Macht des Weines
Wenn mich des goldnen Weines süße
Fluten
Wie Frühlingskraft durchströmen, - Rausch der Freude
Braust über mich, es schwinden mir die Sinne,
Ich blicke tausend Wundern in die Augen
Und höre Stimmen, die in seltsam klaren,
Leuchtenden Worten mir das tiefste Wesen
Des Irdischen und Ewigen offenbaren.
(S. 88)
Hier ist in letzter Deutlichkeit die Notwendigkeit des Rausches - für den Khayyam, wie Hafis als Bild jeweils den Wein setzen - bezeichnet. Mit dem Alltagsbewusstsein lässt sich der Liebe und Hass in sich vereinende Gott, die Einheit des Gegensätzlichen als gesteigertes Wesen des Seins, nicht begreifen. Beginnt aber das Innere der Seele zu schwingen, so kann das Auge, was sich doch immer schon zeigt, auch wahrnehmen. Seine Blindheit findet in solchen Momenten ihr Ende.
Gegenüber der Lebendigkeit rauschhafter und mystischer Inspiration sind alle religiösen Formeln, alle Buchgelehrsamkeit unwichtig und leer (vgl. etwa "Stätte der Andacht": Die Stätte meiner Andacht ist der Weinkrug. / Der Wein erst hebt mich in die lautere Sphäre / Des Göttlichen. Ich habe zu lange Zeit / Durch eifriges Besuchen der Moscheen / Nutzlos verschwendet. Jetzt erst hol ich sie / Durch den Besuch der Schänke wieder ein." S. 106, oder auch: "Lebensregel", S. 114).
Die Erfahrung wirklichen Seins gelingt nur momenthaft in der Vergänglichkeit, in der Hingabe an das, was gerade sie gewährt - in solcher Lebens- und Todeseinstellung sind Omar Khayyam und E.M. Cioran über tausend Jahre hinweg verbunden.
II
Hafis wurde zu Beginn des 14. Jahrhunderts geboren (das genaue Datum ist nicht bekannt). Ungefähr dreihundert Jahre trennen ihn mithin von Omar Khayyam, aber die geistige Haltung, die Einstellung zu den "Pfaffen", zum Lebensgenuss durch Wein und Liebe und zur Nichtigkeit aller Existenz sind identisch.
Die Perlen meiner Seele
Die Perlen meiner Seele
Haben keinen andern Sinn, du Süße,
Als dass ich sie hinstreue,
Hinstreue
Vor deine kleinen, launischen Füße.
(S. 57)
Auf ebenso leichte wie präzise Weise ist hier angedeutet, dass der eigentliche Sinn des Daseins in gesteigerter Hingabe liegt; man vergleiche dazu die letzten beiden Strophen des von Bethge "Liebeshymne" betitelten Gedichts: "Und meine Seele, die arme, gänzlich / Zerrüttete? Sie ist ein Opferkraut, / Geworfen in den ungeheuren Brand / / Verzückter Liebe. Da verglüht es und / Verduftet und steigt selig auf zum Himmel / Zu deiner Ehre, Fürstin dieser Welt!" (S. 62).
Die Empfindung wirklichen Lebens geschieht in solchen Augenblicken der Steigerung. In ihnen entspricht der Mensch dem Göttlichen:
Die Sünden des lautern Herzens
Nichtswürdig bist du, wenn gemeiner
Sinn
Und Rohheit dich beim Sündetun beherrschen,
Doch wenn du lautern Herzens Sünde tust,
So ist die Sünde etwas strahlend Schönes,
Und du wirst herzhaft sündigend zum Gott!
(S. 67)
Wer aber ist dieser Gott? Im folgenden Gedicht gibt Hafis eine Antwort, die etwas Schwindelerregendes hat:
Der Duft aus deinem Haar
Der eitle Ostwind meint, er sei der Geist
Alles Lebendigen. Er irrt sich sehr.
So spricht zu ihm der Duft aus deinem Haar:
"Die Seele der Natur
bin ich, - nicht du.
Wenn ich nicht wäre, würde diese Welt
In Trümmer stürzen. Dunkle, wüste Nacht
Bedeckte dann das Chaos - und auch dich.
(S. 79)
Die "Seele der Natur" ist gerade nichts Naturhaftes, sondern, möchte man mit Platon sagen, der Eros, die Liebe oder das Begehren. Die letzte Strophe der "Liebesgluten" spricht deutlich aus, wie das zu verstehen ist: "Die Sonne, die am Himmel steht, ist nur / Ein abgesprengter Funken dieses Feuers, / Das ganz zerrüttend mir die Brust durchwühlt!" (S. 80) Das Feuer der Sonne ist nur die äußere Erscheinung des wirklichen Feuers, der alle Lebewesen bewegenden Liebe. Das ist nicht ein mehr oder weniger beliebiges Bild, vielmehr steht Hafis mit dieser Anschauung in einer langen Tradition, zu der etwa auch Heraklit und Platon gehören; Franz Vonessen erläutert, was für diese beiden Philosophen Metaphern eigentlich bedeuten, so: "Heraklit lehrt [Fragment B 43], dass das Seelenfeuer kein "uneigentliches", kein ens diminutum gegenüber dem Herdfeuer ist, sondern umgekehrt: Das Feuer im Herzen ist das wahrhafte Feuer, freilich nicht sofort die Idee, sie selber; aber im Verhältnis zum Herdfeuer und anderen, sinnlich erfahrbaren Flammen enthält der innere Brand eindeutig deren Wahrheit und kann sie erklären" (Platons Ideenlehre. Wiederentdeckung eines verlorenen Wegs, Kusterdingen 2001, S. 67).
Der Eros ist Grund und Stachel der Welt, sagt Hafis. Nur wer an ihm partizipiert, lebt wirklich. Was aber heißt es zu lieben? Der "innere Brand" drängt dazu, die Seele wie ein "Opferkraut" zu verbrennen, sie rückhaltlos in der Zuneigung zum Geliebten aufgehen zu lassen. Solche Rückhaltlosigkeit macht das "lautere Herz" rein, "strahlend schön" und "göttlich". Hier ist noch einmal an Platon und seine Bestimmung des Schönen im "Symposion" zu erinnern. Bei Hafis erscheint das Ewige im Vergänglichsten – wenn die Seele ihre "Perlen" vor die "launischen Füße" der Geliebten streut, mithin ihr Eigenstes und Kostbarstes an den eben hierin gesteigerten flüchtigen Augenblick weggibt.
Nun kann man die kongeniale goethesche Auffassung und "Übertragung" des Hafis-Gedichtes: "Keiner kann sich aus den Banden" (Diwan, Bd. 2, S. 90) ansatzweise nachvollziehen. Regina Berlinghofstellt in ihrer hervorragenden Einleitung zur von Hammer-Ausgabe beide Gedichte zusammen:
"Keiner kann sich aus den Banden / Deines Haars befreien, / Ohne Furcht vor der Vergeltung / Schleppst Du die Verliebten. / Bis nicht in des Elends Wüsten / Der Verliebte wandert / Kann er in der Seele Inners / Heiligstes nicht dringen. / Deiner Wimpern Spitzen würden / Selbst Kustem besiegen / Deiner Brauen Schütze würde / Selbst Wakaß beschämen. / Wie die Kerze brennt die Seele, / Hell an Liebesflammen / Und mit reinem Sinne hab ich / Meinen Leib geopfert. / Bis du nicht wie Schmetterlinge / Aus Begier verbrennest, / Kannst Du nimmer Rettung finden / Von dem Gram der Liebe. / Du hast in des Fatterhaften / Seele Glut geworfen, / Ob sie gleich längst aus Begierde / Dich zu schauen tanzte. / Sieh der Chymiker der Liebe / Wird den Staub des Körpers, / Wenn er noch so bleiern wäre, / Doch in Gold verwandeln. / So Hafis! kennt wohl der Pöbel / Großer Perlen Zahlwert? / Gib die köstlichen Juwelen / Nur den Eingeweihten."
Daraus wird bei Goethe:
Selige Sehnsucht
"Sagt es niemand, nur den Weisen, / Weil die Menge gleich
verhöhnet, / Das Lebendge will ich preisen / Das nach Flammentod
sich sehnet. / / In der Liebesnächte Kühlung,
/ Die dich zeugte, wo du zeugtest, / Überfällt
Dich femde Fühlung / Wenn die stille Kerze leuchtet.
/ Nicht mehr bleibest Du umfangen / In der Finsternis Beschattung,
/ Und dich reißet neu Verlangen / Auf zu höherer
Begattung. / / Keine Ferne macht Dich schwierig, / Kommst
geflogen und gebannt, / Und zuletzt, des Lichts begierig,
/ Bist du Schmetterling verbrannt. / / Und so lang Du das
nicht hast, / Dieses: Stirb und werde! / Bist Du nur ein
trüber Gast / Auf der dunklen Erde." (West-östlicher
Divan, Buch des Sängers, Hamburger Ausgabe, Bd. 2, S.
18f).
In beiden Gedichten wird es der Seele durch den Opfertod ermöglicht, sich momenthaft in ihr eigentliches Sein zu verwandeln – der "Staub des Körpers" wird zu Gold, wenn der selber so Gezeugte nun zeugend auch sich selber schafft. Das "neue Verlangen" zielt mithin nicht etwa auf ein anderes Objekt der Begierde, sondern auf eine "höhere Begattung", also die Steigerung, aus der, im goetheschen Sinne, das Schöne entspringt. In seiner Wahrnehmung kann die "Finsternis" der "dunklen Erde" transzendiert werden.
Wenn der liebenden Seele eine ebensolche Gegenliebe begegnet, kann ihre Verschmelzung zum Symbolzeichen eines eigentlich ungeheuerlichen Entstehens werden. Besonders der Helena-Akt des Faust II gehorcht dieser Regie. In der "höheren Begattung", der einzigartigen Konstellation, in die Antike und Abendland treten, bildet sich ein neuer Epochen-Mensch, mit dem die Renaissance, die Neuzeit, mit ihren unabsehlichen Strukturveränderungen, beginnt. Auch darin, dass von Goethe die stiftende Korrespondenz von Zeitaltern als Liebe und Zeugung verstanden wird, folgt er Hafis.
Mit den im Yin Yang Media Verlag Regina Berlinghofs erschienenen Ausgaben Bethges und von Hammers ist nicht nur eine vertiefte Lektüre des nach wie vor wichtigsten und tiefsten persischen Dichters möglich. Man wird vielmehr auch mit einer gewissen inneren Notwendigkeit von Hafis zu Goethes "West-östlichem Divan" geführt. Erneut kann man damit – in unserer lyrikarmen Zeit – einem Gespräch von Gipfel zu Gipfel, von Dichter zu Dichter, folgen und so wieder zu verstehen beginnen, welchen inneren Gesetzen Gedichte folgen.
Max Lorenzen