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                   Hans Magnus Enzensberger über Hafis: (FAZ 25.10.2001)
                  
     
                             Gelassene Tage im Iran

                             In Teheran findet sich, wovon Europa derzeit nur träumen kann / 
                             Von Hans Magnus Enzensberger (FAZ 25.10.2001)

                                     Personenverzeichnis 
                                     [...]
                                     Der Dichter als Orakel 

                                     Alle lesen, singen, zitieren Hafis. Das ganze Land scheint, was dieser Mann vor siebenhundert
                                     Jahren hervorgebracht hat, auswendig im Kopf zu haben. Sein Buch der Lieder liegt neben dem
                                     Koran auf dem Nachttisch, und die einfachsten Leute benutzen es als Orakel. Man öffnet das Buch
                                     aufs Geratewohl, sticht auf ein paar Zeilen, und sogleich weiß der Dichter Rat in allen Lebenslagen.
                                     Auf der Straße kann man für ein paar Pfennige ein Glücksbriefchen kaufen; der Zettel, den man
                                     herauszieht, sagt einem Perser offenbar mehr als jedes Horoskop. 

                                     Einen Dichter, der eine vergleichbare Rolle spielen könnte, wird man auf der ganzen Welt
                                     schwerlich finden. In seiner Heimatstadt Schiraz wird Hafis Jahr für Jahr gefeiert. An seinem
                                     prächtigen Grab versammeln sich Tausende. Auch drei deutschsprachige Schriftsteller waren
                                     diesmal zum Fest eingeladen, und in ihrer Statistenrolle wurden sie freudig begrüßt. Lange
                                     Unterhaltungen im Spiegelsaal eines kleinen Palastes über den "West-Östlichen Divan", Hafis und
                                     Goethe; aber was anderswo zur akademischen Übung geraten wäre, hier ging es bald um die
                                     zentralen Probleme des Irans. Wie Salman Rushdie wurde Hafis einst zur Zielscheibe einer Fatwa;
                                     seine Lieder wurden verbrannt; nur die mündliche Überlieferung hat sie gerettet. Der Dichter war ein
                                     großer Kenner des Korans. Das hat ihn nicht gehindert, ein ausschweifender Liebhaber zu sein, den
                                     Knaben wie den Frauen zu huldigen, zu trinken, was das Zeug hält, und sich über Schriftgelehrte
                                     und Pharisäer lustig zu machen: 
 

                                     Zweiundsiebzig Glaubenslehren 
                                     klauben Worte leer und tot; 
                                     ihnen tagt, sie zu bekehren, 
                                     nie der Wahrheit Morgenrot. 

                                     Vergeblich versucht die Orthodoxie seit Jahrhunderten, den Skandal der Poesie loszuwerden, indem
                                     sie dem Dichter mit haarsträubenden Interpretationen das Wort im Munde herumdreht - ein weiteres
                                     Indiz dafür, daß die alten Landessitten, und sei's auch nur sub rosa, jeder Diktatur widerstehen. 

                                     [...]

                                     Gemeinsam mit seinen Kollegen Adolf Muschg und Raoul Schrott ist der Schriftsteller Hans
                                     Magnus Enzensberger in diesen Tagen von einer Reise nach Iran zurückgekehrt. Die Eindrücke, die
                                     die Schriftsteller aus Teheran, Schiraz oder Isfahan mitgebracht haben, werden wir im Verlauf der
                                     nächsten Tage im Feuilleton veröffentlichen.
 

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