Beiträge zur geistigen Situation der Gegenwart  Jg. 3 (2002), Heft 5  (http://www.philosophia-online.de/mafo/heft2002-05/Bethge1_3.htm)

Hans Bethge: Nachdichtungen orientalischer Lyrik Band I. Die chinesische Flöte. 20. Auflage der zuerst 1907 im Insel Verlag Leipzig, erschienenen Ausgabe, neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Regina Berlinghof, YinYang Media Verlag, Kelkheim 2001, ISBN 3-9806799-5-0, 119 + XI Seiten,  12,50 €Hans Bethge: Nachdichtungen orientalischer Lyrik Band V. Das türkische Liederbuch. 3. Auflage der zuerst 1913 im Verlag Morawe & Scheffelt, Berlin, erschienenen Ausgabe, neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Regina Berlinghof, YinYang Media Verlag, Kelkheim 2002, ISBN 3-9806799-7-7, 122 + IX Seiten, 12,50 €

Hans Bethge: Nachdichtungen orientalischer Lyrik Band XII. Sa'di der Weise (Die Lieder und Sprüche des Sa'di). Erstausgabe aus dem Nachlass Hans Bethges, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Regina Berlinghof, YinYang Media Verlag, Kelkheim 2001, ISDN 3-9806799-6-9, 103 + IX Seiten, 12,50 €

Der YinYang Media Verlag Regina Berlinghofs wird, in Kooperation mit der Erbengemeinschaft Hans Bethges, in zwölf Bänden dessen "Nachdichtungen orientalischer Lyrik" herausbringen, die ersten drei Bände liegen bereits vor. Vielleicht geht es einigen, die nun diese Rezension lesen, ähnlich wie deren Verfasser oder eben der Herausgeberin, die im Nachwort ihre erste Begegnung mit diesen Übersetzungen so schildert: "Im August 1977 entdeckte ich im Wühltisch eines Frankfurter Buchantiquariats ein kleines Bändchen, gebundenen in verschlissener roter Seide. (...) Ein Inselband in Doppelblockbindung aus den zwanziger Jahren zum Preis von zehn Mark. Es war Hans Bethges: "Hafis. Die Lieder und Gesänge des Hafis", Nachdichtungen persischer Lyrik. (...) Ich erstand das Bändchen und trug es wie einen Schatz glücklich nach Hause. In den späteren Jahren stöberte ich weitere drei Exemplare der schönen alten Inselbändchen mit Hans Bethges Nachdichtungen orientalischer Lyrik auf. (...) Immer wieder überraschte mich in den alten Bänden die taufrische Sprache, die Lebendigkeit des Gefühls und die Offenheit und Weite des Denkens der ausgewählten Dichter".

Es gab zwar bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts Neuausgaben der Übersetzungen, dennoch wird es vielen Leserinnen und Lesern wie Regina Berlinghof oder mir gegangen sein, die in Antiquariaten auf diese Bücher gestoßen sind. Zunächst angezogen von der Aufmachung und den alten Texten, entdeckte man den spezifischen Bethge-Ton, den man vielleicht anfangs noch mit dem der Originale verwechselte, der jedoch die Kaufentscheidung herbeiführte. Der Eindruck dieser Sprache vertiefte sich bei weiterer Lektüre. Nun störte es auch nicht mehr, wenn man erfuhr, dass die Nachdichtungen bereits nach französischen oder englischen Übersetzungen angefertigt worden waren. Man hatte bereits gefühlsmäßig begriffen, dass diese Gedichte - etwa der "chinesischen Flöte" - das Ergebnis einer eigenartigen, ja einzigartigen Begegnung verschiedener Kulturen und Epochen darstellten.

Hans Bethge wurde am 9. Januar 1876 in Dessau geboren. Er studierte neuere Sprachen und Philosophie in Halle, Erlangen und Genf und arbeitete nach der Promotion als Lehrer in Spanien. Ab 1901 lebte er als freier Schriftsteller in Berlin. Er schrieb und veröffentlichte Gedichte, Tagebücher, Novellen, Erzählungen, Essays und Dramen. 1907 begannen mit der "chinesischen Flöte" seine Nachdichtungen orientalischer Lyrik zu erscheinen. "Wie Goethe, Rückert, Hermann Hesse und Richard Wilhelm gehört Hans Bethge zu denjenigen, die dem deutschsprachigen Kulturkreis die Schätze der orientalischen Dichtkunst und Weisheit vermittelt haben. Bethge konnte kein Chinesisch, kein Arabisch und kein Persisch - und keine andere orientalische Sprache. Und doch hat er, ein Reisender in Tat und Geist, den Gehalt der östlichen Dichter wie kaum ein anderer erfasst und in Ton, Klang und rhythmischer Musikalität zum Ausdruck gebracht. (...) Als eigenständige Neuschöpfung wurde "Die Chinesische Flöte" ins Holländische und Dänische übersetzt. Gustav Mahler bewegte das darin enthaltene Gedicht Li-Tai-Pos "Vom Jammer der Erde" so sehr, dass er es mit sechs weiteren Gedichten aus dem Band zur Grundlage seines "Lied von der Erde" machte" (aus dem Nachwort).

Bethge starb am 1. Februar 1946. Sein Grab befindet sich in Kirchheim unter Teck, wohin er 1943 vor den Luftangriffen geflohen war. Man kann dort, im Max-Eyth-Haus, Bücher, Fotos und Lebenszeugnisse des Schriftstellers betrachten, die in einer ständigen Ausstellung zugänglich sind.

Was ist es nun, das diese Übertragungen zu einem "Schatz" macht? Die Herausgeberin spricht zurecht von "schlicht gehaltener, fein durchrhythmisierter Sprache", liedhaftem Ton und innerer Tiefe der Gedichte. Wir begegnen traditionellen poetischen Formen, etwa im "türkischen Liederbuch" der Klage des Dichters über die hochmütige Geliebte: "Das Verwundete Herz ( Fuzuli) An meinem Herzen trag ich tausend Wunden, / Und jede ist ein Mund, der dir lobsingt, / Geliebte! Jeder deiner spitzen Pfeile / Ist mir ein Glück, das unaussprechlich ist" (S. 8). Das ist kunstvoll, wenn auch in der Wiederholung ein wenig langweilig; dennoch zeigt sich schon hier etwas, das unser Gemüt - dieser alte Ausdruck ist hier am Platz - berührt. Lesen wir jedoch "Das Schöne Landkind" von Abdul Hak  Haamid Bey (S. 56f), vom selben Dichter "Vergangenheit und Gegenwart", mit der letzten Strophe: "Komm, lass uns heute unser Schicksal teilen; / Ein greiser Liebender und seine Liebste / In grauem Haar, - zwei treffliche Genossen!" (S. 63ff), oder von Kemal Bey "Der Dichter" und "Aufforderung" mit dem Vers: "Wird auch der Weltschmerz mit der Welt vergehn?" (S. 70), so ergreift uns tatsächlich etwas wie eine zutiefst traurige und schöne Musik, deren Klang sich in die Seele senkt und dort bleiben wird, solange sie existiert.

Das Gedicht "Abgeschiedenheit" von Tewfik Fikret Bey gehört für mich mit zu den beeindruckendsten des "türkischen Liederbuchs": "Mit träumerischem Aug betrachte ich / Von ferne eine Hütte, die das Glück / Beherbergt; aus dem hundertjährigen, / Zerfallenen Kamin erhebt sich schräg / Und fein ein Wölkchen in die reine Luft. // Die ganze Landschaft ruht in tiefem Schweigen / Begraben unter makellosem Schnee. / Ein ganzes Dorf ist unter diesem Schweigen / Verschwunden, - wie vernichtet und zerstört. / Die Landschaft schläft in diesem holden Frieden / Wie in des Paradieses seliger Ruh. // Hier führe ich, allein mit meinen Träumen, / Ein dörflich Dasein; die Geheimnisse / Des Lebens mischen sich vor meinem Aug / Mit jenem weißen Hauch, den der Kamin / Der Hütte in die reine Luft entsendet." (S. 82)

Das uns im tiefsten Innern anrührende Geheimnis dieser Poesie liegt nicht nur darin, dass sich in ihr ein Gefühl von unendlicher melancholischer Auflösung mit einem klar und plastisch gezeichneten Bild verbindet, in dieser Verbindung sich aber Leben und Tod selber begegnen; ihr Merkwürdigstes überhaupt liegt in dem Gefühl von Stille, Klarheit und Reinheit, das uns beim Lesen dieser Zeilen durchzieht. Es stiftet eine Katharsis, eine Reinigung der Seele, die uns unmittelbar verstehen lässt, worin für das Gedicht das wirklich Wichtige des Daseins besteht. Wenn unsere Existenz sich mit dem numinosen Quellpunkt der Schöpfung berührt und Flüchtigkeit und Dauer ineinanderklingen, verwandeln sich Welt und Seele in etwas Reines und Schönes, von dem wir sonst keine Vorstellung haben. "Wie in des Paradieses seliger Ruh" erscheint das von seiner Last befreite Leben, dessen "Geheimnisse" nun erst rätselhaft hervortreten. Was sie vernehmbar macht, ist das Wesen der Poesie selber.

Bethges Sprache ist ebenso sanft, wie klar. Ihr Rhythmus schafft Strukturen und Gebilde, die in ein von innen kommendes Licht getaucht sind. So entsteht in diesen Gedichten ein Zwischenbereich, in dem die Gesetze der Schönheit gelten. Die große Poesie der Moderne (eine andere gibt es noch nicht) evoziert ihn nur in den seltensten Fällen unmittelbar; zumeist kann sie auf ihn nur im Schmerz, der aus seiner Abwesenheit resultiert, deuten. Die Welt dieser Nachdichtungen ist eine andere, und es ist ein unschätzbares Glück, dass sie aus einer Zeit, die sich nicht von ungefähr für kulturelle Frühformen interessierte, auf uns gekommen sind.

Die Sprüche und Gedichte Sa'dis des Weisen (etwa 1184 geboren) sind eher lehrhaft, statt poetisch. Immerhin findet sich manches, das als kluger Ratschlag an Fürsten und Könige verstanden werden kann, gerecht und ohne Übergriffe zu herrschen, damit sich die sonst von ihnen erzeugte Unmoral nicht gegen sie selber wende. Ein Beispiel: "Vom Regieren" "Regieren will nicht heißen: mit Gewalt / Das Volk bedrohen. Niemals ward ein Wolf / Geschaffen, einer Herde Hirt zu sein. // Töricht der König, der, berauscht von Herrschsucht, / Die Liebe seiner Untertanen tötet: / Ein frühes Grab gräbt er der eigenen Macht." (S. 76)

Aus der "chinesischen Flöte" sei noch das letzte Gedicht, "Traurige Frühlingsnacht" von Li-Song-Flu (geb. 1870, also einem Zeitgenossen Bethges; die Sammlung umfasst Texte aus 3000 Jahren ) zitiert: "Geschrei der silbernen Fasanen / Klang melancholisch durch die Nacht, / Ich spielte dir auf meiner Flöte / Ein Lied, das auch nicht fröhlich war. // In dumpfer Trauer lag die Erde, / Wir wussten keinen Grund zu nennen, / Daß unsre Augen überflossen, - / Das Leben war wie Blei in uns. // Uns war so bange wie den Blumen, / Du ließest deine Hände hängen, / Du sahst mich an und sprachest müde: / "Sei still, es wird vorübergehn." (S. 101)

Die "Nachdichtungen" gehören, wie die großen europäischen Werke, zu unserem kulturellen Bestand, der nur für die vordergründige Betrachtung zerfallen ist. In Wahrheit existiert er unter der Oberfläche weiter und wird immer erneut auch in unsere Gegenwart wirken. Ein Zeichen dafür ist die vorliegende Edition, deren weitere Bände wir ebenfalls im Forum vorstellen werden.

Max Lorenzen  Diesen Artikel als Word-Dokument herunterladen