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16. Kapitel: 
Die Höhle

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Leseprobe

Regina Berlinghof:

Mirjam. Maria Magdalena und Jesus



16. Kapitel: Die Höhle

[...]

Es wurde eine kalte, ungemütliche Nacht. Ich zitterte und fror in der Wüstenkälte. Ungewohnte Geräusche ließen mich immer wieder hochschrecken. Sicher hausten hier wilde Tiere. Nicht einmal ein Feuer konnte ich machen. Die schmale Mondsichel gab nur wenig Licht und das auch nur, wenn die vorbeiziehenden Wolken sie nicht verdeckten. Ich zog den Mantel dichter um mich, hockte mich auf mein Bündel und lehnte mich an den Felsen. In meiner Angst betete ich zum Herrn und bat um seinen Schutz. Wenn ich so betete, lockerte die Angst ein wenig ihren Griff. Trotzdem schien die Zeit stillzustehen - die Nacht nahm kein Ende.

Dann ein scharrendes Geräusch über mir. Es wurde immer lauter. Steine lösten sich und rollten den Berg herab. Etwas näherte sich. Mensch oder Tier - ein großes Tier! Kalte Angst kroch in mir hoch. Sollte mich der Tod finden, bevor ich Jeschua wiedergefunden hatte? Sollten mein Aufbruch, mein Suchen, die ganze lange Wanderung von Caesarea nach Jeruschalajim und Beit Lechem, nach Beit Hinei und Efrajim nur dazu gedient haben, einer hungrigen Bestie den Magen zu füllen? In meiner wehen Einsamkeit und Verlassenheit schluchzte ich laut auf.

"Wer ist da?" rief es laut. Wie ein Donnerschlag durchfuhr es mich. Diese Stimme kannte ich.

"Jeschua? Bist du es?"

"Wer ruft meinen Namen?"

Ich sprang auf.

"Ich bin es, Mirjam! Mirjam, die du geheilt hast! Mirjam, die dich verlassen hat und nun aus Caesarea gekommen ist, um dich zu suchen!"

Ich lachte und weinte und suchte das Dunkel nach seiner Gestalt ab. Ich hörte ihn den Hang hinunterspringen - dann stand er vor mir. Ich fiel ihm weinend in die Arme.

"Mirjam - du! Ich kann es nicht glauben! Ich habe gebetet und gebetet. Und der Herr hat mir dich gesandt! Dich von allen!"

Er griff sich an den Kopf, faßte meine Schultern, wie um sich zu vergewissern, daß er nicht träumte. Dann, als ihm meine Gegenwart zur Gewißheit geworden war, richtete er sich auf und sagte mit anderer Stimme:

"Komm mit - hier kannst du nicht bleiben. Nicht weit von hier gibt es eine Höhle, in der ich hause. Dort bist du sicher, und es ist wärmer als hier draußen."

Er half mir langsam und vorsichtig den Berg hinauf. Kurz vor der Kuppe öffnete sich der Fels. Ein dunkler Schlund gähnte uns entgegen, und Jeschua führte mich hinein. Er brachte mich zu einem Lager aus Stroh und getrockneten Moosflechten und bettete mich sanft darauf. So glücklich und aufgeregt ich durch unser Wiedersehen war - ich muß in Schlaf gefallen sein, kaum daß ich lag.

Ich wachte durch laute Stimmen auf. Als ich die Augen öffnete, fiel ein Streifen heller Sonne in die Höhle. Ich konnte nicht erkennen, wie spät es war. Ich war allein. Die Stimmen kamen vom Höhleneingang. Jeschua stand draußen und sprach mit einigen Männern. Dann erkannte ich langsam auch ihre Stimmen. Ich hörte Schim´on bar Yonahs sanften Baß, die fordernd-rechtende Stimme von Bar-Tolmai. Dann eine fremde Stimme - der Sprecher mußte noch recht jung sein. Dann eifrig bittend Jehuda aus Kriot.

"Seid doch leise! Ihr braucht in dieser Stille doch nicht so zu brüllen", hörte ich Jeschua halblaut. In dem sich anschließenden Gemurmel konnte ich zwar die einzelnen Sprecher erkennen - aber was sie sagten, drang nur undeutlich zu mir in die Höhle. Ab und zu schnappte ich ein Wort, einen Halbsatz auf. Allmählich setzte sich mir der Sinn zusammen: Jeschuas Schüler baten ihn inständig, mit ihnen zu kommen und nach Jeruschalajim zu ziehen. Jeschua weigerte sich mit harter Stimme und schickte sie fort. Lange ging es hin und her. Schließlich fügten sie sich murrend, nicht ohne die Ankündigung, am nächsten Morgen wiederzukommen und ihn dann zu holen.

"Geht doch endlich, laßt mich allein! Ich kann euch hier nicht gebrauchen. Wenn ihr etwas für mich tun wollt, dann geht und betet für mich und für euch auch!"

Ich hörte widerwillig gemurmelte Abschiedsworte und das Scharren sich entfernender Schritte. Ich hatte mich aufgerichtet, um den Wortwechsel besser verstehen zu können. Als es draußen still wurde, legte ich mich schnell wieder hin und stellte mich schlafend. Ich wollte so schnell nicht Schicksal der früheren Gefährten erleiden.

Langsame, schwere Schritte näherten sich meinem Lager. Ich spürte Jeschuas Blick und öffnete unwillkürlich die Augen. Zum ersten Mal seit unserer Trennung sah ich sein Gesicht - und erschrak. Seine Wangen waren eingefallen, die Augen lagen tief zurückgesunken, aus ihnen sprach unendliche Müdigkeit. Der Bart und die Schläfenlocken waren grau gesträhnt. Falten und Schatten ließen nichts mehr von dem Glanz erkennen, der früher von ihm ausgegangen war. Ein alter, müder und gebeugter Mann stand vor mir. Er lächelte mich mühsam an. Seine Hände zitterten ein wenig, als er sie zum Gruß faltete.

"Jeschua, was ist mit dir", schrie ich unwillkürlich. "Bist du krank? Was hat dich so verändert? Kann ich dir helfen?"

Er ließ sich neben mir nieder, und die Art, wie er sich setzte, krampfte mir das Herz zusammen. Er ließ sich fallen, wie man einen Haufen alter Lumpen fallenläßt - gleichgültig, achtlos. Und das von Jeschua, dessen kleinste Bewegung früher nichts als gesammelte Energie, Liebe und Aufmerksamkeit gewesen war! Er saß neben mir mit gesenktem Kopf und schwieg. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.

"Ich bin am Ende, Mirjam", brach er dann endlich das Schweigen. "Das ist alles. Ich kann so nicht mehr weiter."

Es war verrückt. Ich war zu ihm geeilt, weil ich mir Hilfe erhofft hatte, seine Hilfe. Nun war er selbst völlig am Ende - ausgebrannt, leer. Selbst das Sprechen fiel ihm schwer. Nein, es stimmte nicht, daß ich zu ihm gezogen war, um seine Hilfe zu finden. In Wahrheit hatte ich ihn gesucht, weil ich ihn immer noch liebte und die Hoffnung nicht aufgegeben hatte, daß er seine Liebe doch noch zulassen würde. Als er so gebrochen vor mir saß, liebte ich ihn mehr denn je. Ich hatte ihn als den liebestrahlenden Rav und Mann geliebt und begehrt - nun mischte sich ein weicheres, zartes Gefühl hinein, die Sehnsucht, ihn in die Arme zu nehmen, ihn zu halten und zu beschützen. Ein fast mütterliches Gefühl.

"Wie ist es gekommen", fragte ich vorsichtig, "hast du dir zu wenig Ruhe gegönnt? Auf dem ganzen Weg hörte ich von dir, dem Wundermann, dem Maschiach, den der Herr gesandt hat und der Tote auferwecken kann! Man spricht nur von deiner Macht und Stärke - und daß du die Römer vertreiben wirst! Man nennt dich den künftigen König von ganz Jisrael. Und nun finde ich dich - allein, krank und elend! Wie kommt das zusammen?"

"Verstehst du das nicht? Sie wollen nur ihre Wunder haben! Sie wollen einen Helden, einen Maschiach, einen Gottessohn, dem sie folgen und sich hingeben können. Sie wollen den mächtigen Krieger und König, der sie von den Römern befreit und der den Glanz der Könige David und Schlomo wieder zum Strahlen bringt. Das ist alles, was sie von mir sehen und verstehen. Und das, was ich ihnen eigentlich sage und predige, hören sie nicht - nicht einmal meine eigenen Schüler! Es ist, als ob man einem unverständigen Kinde alle Schätze der Welt zu Füßen legt, damit es sich das Kostbarste davon aussuchen kann. Und aus all den Schätzen wählt es sich einen bunten Flitterfetzen und läßt Gold, Silber und Edelsteine gleichgültig liegen! Ich will ihnen zu wahrem Glück verhelfen. Ich bringe ihnen das Beste und Höchste: die Liebe des Herrn, und sie sehen nur Macht, Kampf und Vorherrschaft! Ich lehre sie das ewige Leben, und sie glauben, die Steine von den Grabkammern wälzen zu können. Sie nehmen es als göttliche Versicherung, um gegen die Römer zu kämpfen. Ich kann sie ja wieder lebendig machen, wenn sie im Kampf sterben! Sie wollen von ihren Krankheiten und Gebrechen geheilt werden - aber Bosheit, Neid und Streitlust sollen weiter in ihren Herzen hausen dürfen. Daß die Priester, die Zedokijim und die Pruschim nichts begreifen und nichts wissen wollen, war mir schon klar. Aber selbst meine Schüler sehen und begreifen nichts. Es sind jetzt mehr als ein Dutzend. Sie leben mit mir und hören tagtäglich meine Worte. Sie sehen, was ich tue - und sie haben nichts anderes im Kopf, als sich zu fragen, wer unter ihnen der erste ist und wie oft sie sich untereinander vergeben müssen!

Es ist, als ob die Menschen in der Dürre der Wüste zum Herrn schrien, und er erbarmte sich ihrer und schickte ihnen in seiner unendlichen Liebe nicht nur ein kleines, dürftiges Rinnsal, sondern einen großen Strom. Und anstatt sich darüber zu freuen und dankbar das Wasser zu trinken, die trockene Erde damit zu wässern, Früchte anzubauen und das Land in einen Garten Eden zu verwandeln, trinken sie es mit saurer Miene und ärgern sich, daß der verhaßte Nachbar auch daraus schöpfen darf! Ich sehe wohl ihre Angst und die Gier, die sie so verblendet. Aber ich weiß nicht mehr, wie ich sie erreichen soll, und ich verliere alle Kraft und Geduld. Vor einiger Zeit habe ich in einem Wutanfall die Händler und Geldwechsler aus dem Tempel hinausgeworfen. Nach einer Stunde saßen sie natürlich alle wieder drinnen, und die Priester und Pruschim feixten und klopften sich vor Vergnügen auf die Schenkel. ´Und so einer predigt die Liebe´, sagten sie, ´jetzt habt ihr selbst seine Liebe sehen und schmecken können! Im Hause des Herrn, den er frech und dreist seinen Vater nennt, hat er gehaust wie ein Wilder, um nicht zu sagen, wie ein Irrer. Seine Liebe ist der Knüppel, und seine Lehre die Verhetzung aller wahrhaft Gerechten und Frommen!´

Ich habe den La´asar wieder zum Leben erweckt. Und anstatt sich zu fragen, wie und warum ich das getan habe, aus welcher Kraft und aus welchem Glauben, um es selbst erlernen und vollbringen zu können, wollen sie nur noch mehr Wunder. Sie machen mich zum Wundertier - zum Goldenen Kalb unter den Propheten. Das ist ja auch so viel einfacher, als selbst an den Vater zu glauben und selbst etwas zu tun. Anstatt sich selbst der Liebe des Vaters zu öffnen und darin zu leben, erniedrigen sie sich zu meinen Sklaven und beten mich wie Gott selbst an. Mirjam - ich habe völlig versagt. Ich weiß einfach nicht mehr weiter!

Du kennst vielleicht die Geschichte meiner Versuchung in der Wüste, nachdem ich mein Elternhaus verlassen hatte. Wie leicht es in der Wüste war, allen Verlockungen zu widerstehen! Ich hielt mich danach für immer gefeit. Wie blind, hochmütig, selbstgerecht und dumm ich war! In Wahrheit hat Satan gesiegt - und ich hatte es nicht einmal gemerkt! Erst jetzt haben sich mir die Augen geöffnet. Erst jetzt sehe ich, was ich getan habe! Erst jetzt sehe ich, wer ich bin: ein törichter kleiner Prophet, der glaubt, von Gott zu sprechen, und in Wahrheit sich selbst erhöht. Sie beten nicht mehr zu Gott - sie beten zu mir! Ich könnte lachen, wenn ich sehe, wie erfolgreich ich allen Versuchungen erlegen bin - wenn es mich nicht vor mir selbst so ekelte."

Ich schrie auf. Es war unerträglich, seine Selbstvorwürfe, seine Selbstzerfleischung mit anhören zu müssen.

"Nein, Mirjam, widersprich mir nicht. Du hast mich einmal beschuldigt, daß ich den Menschen nur Steine statt Brot gebe. Du hattest völlig recht."

"Aber das war doch im Zorn dahingeworfen", unterbrach ich ihn.

"Das ändert nichts an der Wahrheit. Laß mich weitersprechen. Ich will dir alles erklären. Ich will versuchen, es wenigstens einem Menschen zu erklären.

Damals in der Wüste hatte ich gefastet und allein vom Wasser einer kleinen Quelle gelebt. Nach vierzig Tagen spürte ich kaum noch meinen Körper. Ich hatte nicht einmal mehr Verlangen nach Brot oder anderer Nahrung. Ich fühlte mich so leicht und klar, als hätten mein Geist, meine Seele in frischem Wasser gebadet - ich war eins mit Gott und seiner Liebe. Die göttliche Liebe erfüllte mich mit einer solchen Kraft und geistigen Klarheit, daß mein Körper zitterte und ich zu fürchten begann, es könnte ihn zerreißen. Ich mußte mich wieder stärken und etwas essen, um diesen Strom göttlicher Energie überhaupt aushalten zu können. Ich brach also das Fasten ab und ging zum nächsten Ort, um mir Brot zu besorgen. Ich ging - und meine Füße schienen nicht den Boden zu berühren. Eigentlich hatte ich keine Füße und keinen Körper mehr. Ich spürte keine Schwere, keine Begrenzung. Ich ging und verschmolz mit dem Boden, mit den Felsen - die Luft und mein Atem wurden eins, und es gab keine Trennung zwischen mir und der Erde oder dem Himmel. Als ich dies - immer noch durchströmt von dieser unendlichen Kraft und Liebe - verwundert feststellte, sagte ich mir: Wenn zwischen mir und den Felsen kein Unterschied ist, wenn wir in Wahrheit alle eins sind in Gott - wozu dann noch weitergehen? Dieser Stein zu meinen Füßen ist Stein, und er ist auch mein Körper. Und er ist das Brot, das ich suche. Es gibt keinen Unterschied. Die göttliche Kraft wird, wenn ich dies will, diesen Stein in frisches Brot verwandeln! Und in dem Augenblick, als mir das klar wurde, wußte ich, daß ich nie mehr hungern würde. Daß es mir niemals an etwas mangeln würde! Ich hatte gefastet, um zu erkennen, daß ich gar nicht fasten konnte! Alles, wonach mich je verlangte, hatte der Herr in meine Hand gegeben!

Ich nahm den Stein. Und die göttliche Kraft verwandelte ihn in Brot - in frisches, knuspriges, duftendes Brot! Ich sah mich, wie ich alle Steine und Felsen der Wüste mit einem Gedanken in alles verwandelte, was mir gerade einfiel: in Brot und Früchte für die Hungernden, in Häuser und Kleider für die frierenden Armen und Obdachlosen, in gutes Werkzeug für unsere Handwerker - selbst in Gold, Silber, Edelsteine und prächtige Gewänder. Wunderschöne Frauen umringten, bedienten und schmückten mich. Sie lächelten mir zu und warteten nur darauf, daß ich eine von ihnen herbeiwinkte und ihr meine Liebe schenkte. Und da - als ich alles hatte, was ich nur begehren oder wünschen konnte -, da befiel mich eine merkwürdige Unzufriedenheit. Und ich wußte, das Entscheidende, das Wirkliche, das Wichtigste fehlte: Der Herr war nicht mehr gegenwärtig. Ich spürte nicht mehr seine Liebe! Und all die kostbar glitzernden Dinge, die ich vor mir aufgetürmt hatte, erschienen mir leer und nichtig. Das Lächeln der Frauen gefror, und ich sah ihre Leiber welken. Ihre Augen grinsten mich aus Totenschädeln an, und statt ihrer zarten, schlanken Finger wanden sich mir eklige Würmer entgegen. Und ich erkannte, daß die Macht, die mich Stein in Brot verwandeln ließ, die Macht des Todes, des Verfalls und der Leere ist - denn der Herr, der lebendige Gott und Schöpfer allen Lebens, war nicht in ihnen und nicht mehr bei mir. Es ist wahr, was geschrieben steht: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern allein von dem, was aus der Liebe Gottes kommt. Da warf ich das Brot zur Erde, und es war wieder ein Stein wie vorher. Das war in der Wüste.

Aber dann kam ich zu den Menschen. Als sie mir ihren Hunger nach einem Bissen Brot entgegenschrien, hörte ich darin noch lauter, wie ihre Herzen nach der Liebe des Vaters schrien. Da gab ich ihnen Brot und Fische und füllte ihre Herzen mit der göttlichen Liebe, damit ihr Hunger gestillt würde. Und sie aßen die Brote und Fische und spürten die unendliche Liebe, die sie nie gekannt hatten. Aber in der Liebe, die sie durch mich erfuhren, übersahen sie die Liebe des Herrn, die in ihnen selbst wirkt und wie eine verschleierte Braut darauf wartet, vom Bräutigam erkannt zu werden. Und als sie gesättigt waren, vergaßen sie die göttliche Liebe, und zurück blieb das Wunder der Brote und Fische, das ich vollbracht hatte! Sie glaubten an mich und suchten nicht mehr den Herrn selbst. Weißt du noch, wie ich sagte, man solle nicht neuen Wein in alte Schläuche füllen? Aber ich selbst gab ihnen nicht lebendigen Wein, sondern nur leere Schläuche, Steine statt Brot und schöne Worte anstelle eigener, lebendiger Erfahrung.

Ich habe das Jammern und Klagen der Kranken und Sterbenden gehört und habe sie durch die unendliche Liebe des Vaters geheilt. Nun vertrauen sie mir und nicht dem Vater - und ich bin ihr Herr und Heiland. Als ich im Sturm auf dem Kinneret-Meer die Angst der Männer sah, ging ich erfüllt von der göttlichen Liebe hinaus auf das Wasser und glättete die Wellen des Meeres. Nun schreien sie in ihrer Angst zu mir, anstatt die Quelle der Hilfe in sich selbst zu suchen!

Ich habe Liebe verschenkt, ihre Bäuche mit Brot und Fischen gefüllt. Ich habe ihnen die Angst genommen und Kranke geheilt und von der Liebe des Herrn gesprochen. Nun streiten sie um meine Worte, aber den Geist sehen sie nicht. Ich habe nicht einen zu der Quelle führen können, aus der meine Liebe und meine Worte fließen. Ich habe nur leere Zisternen gefüllt. Und wenn sie die Zisternen ausgeschöpft haben, wissen sie nicht, wie sie frisches Wasser finden können. Anstatt sie anzustacheln, selbst auf die Suche nach der Quelle zu gehen, habe ich sie satt und träge gemacht."

"Wenn du nicht diese Liebe verschenkt und Kranke geheilt hättest, säße ich jetzt noch mit stierem Blick auf dem Tavor - ein Menschenklotz aus Stein, unfähig zu irgendeiner Regung", warf ich ein. Aber er achtete nicht auf meine Worte.

"Nun höre, wie ich auch der zweiten Versuchung erlegen bin: Als ich weiter durch die Wüste ging, sah ich von einem Berg fern das goldene Dach des Beit HaMikdasch leuchten. Wie eine Perle die unscheinbaren Muschelschalen überglänzte es die kahlen Wüstenberge. Eine große Sehnsucht erfaßte mich. Ich wünschte mir, dort oben beim Tempel zu sein. Im gleichen Augenblick schwebte ich über dem Heiligtum. Ich sah das Gewimmel der Menschen in den Höfen, ich sah die dicht gedrängten Häuser und Dächer der Stadt und ich sah die Hügel ringsum mit ihren Feldern und Hainen, die hart bis an die nackte Wüste grenzten. Ich sah alles so deutlich und klar, als stünde ich tatsächlich auf den obersten Zinnen der Türme des Tempels.

´Wenn ich jetzt zum Herrn bete, daß er mich herabschweben und zu den Menschen sprechen läßt´, schoß es mir durch den Kopf, ´dann werden sie dies als das göttliche Zeichen erkennen. Dann werden sie glauben, daß ich wahrhaft vom Vater berufen bin, um in seinem Namen zu sprechen und seine göttliche Liebe und Gnade zu verkünden. Im Angesicht dieses Zeichens werden sie sich nicht mehr von der Verachtung und den Drohungen der Priester und Pruschim einschüchtern lassen. Dann werden sie erkennen, daß der lebendige Gott der Gott der Liebe ist und nicht der Gott der Strafe und Rache, der einteilt in rein und unrein, in gerettet und verworfen! Wenn ich so über ihren Häuptern erscheine, wird es ein Ende haben mit dem ewigen Schreien der Priester nach Opfern und Opfergaben, mit dem Beharren der Pruschim auf ihren engen, trockenen Buchstabendeutungen. Mit diesem Zeichen wird der Vater ihre falschen Lehren ersticken, wie er damals die Opferfeuer Achavs und Jesevels erstickte und das Brandopfer des Elijahu hoch auflodern ließ!´ Und ich wußte, daß der Vater mein Gebet erhören würde, so wie er das Gebet Elijahus erhört hatte.

Aber als ich Elijahu und sein Opferfeuer so vor Augen sah, wußte ich auch, daß ich nicht vom Tempel herabschweben und nicht zu den Menschen sprechen durfte. Gott hatte allen Menschen durch Elijahu sein Zeichen gegeben - und alle hatten sie daraufhin zum Herrn gebetet. Aber sie sahen nur seine Macht, der das eine Feuer zum Lodern und das andere zum Erlöschen bringt. Haben sie darum den lebendigen Gott in ihren Herzen gesehen oder gehört? Und nach Elijahu kamen die Priester und Pruschim. Sie lehren die Allmacht des Herrn. Aber vom lebendigen Gott wissen sie so wenig wie Achav und Jesevel! Wenn ich vom Tempel herabgeschwebt wäre, hätten die Menschen darin ebenso nur die Macht und die Wunderkraft des Herrn gesehen. In ihren Herzen wären sie die gleichen geblieben. Und nach mir würden wieder Priester und andere kommen und dieses Zeichen auslegen. Sie würden darin wieder nur die Macht des Herrn sehen und verherrlichen. Aber seine Liebe hätten sie dadurch ebensowenig erkannt wie die Zedokijim und Pruschim nach Elijahu! Mit äußeren Zeichen und Wundern würde ich nichts erreichen - im Gegenteil.

So löste ich mich vom Tempel und ging weiter in die Wüste und fühlte mich ganz in Einklang mit den Worten der Torah: ´Du sollst Gott, deinen Herrn, nicht versuchen.´

Und was habe ich dann in Wirklichkeit getan? Einmal glaubte ich, daß Schim´on, Jehuda und Jochanan, den du noch nicht kennst, der eigenen, lebendigen göttlichen Erfahrung ganz nahe wären. Ich wollte ihnen dabei helfen. Ich dachte nicht mehr an den Tempel oder an Elijahu, Achav und die Brandopfer. Ich wollte ja auch nicht die Größe des Herrn und meine Sendung beweisen. Ich wollte ganz still im Verborgenen wirken. Ich spürte nur ihre Sehnsucht, selbst die Stimme des Herrn zu hören. Also nahm ich sie mit auf einen Berg, wo wir ganz ungestört waren. Dann setzten wir uns, und ich riet ihnen, sich in der Stille ganz auf den Herrn zu konzentrieren. Ich betete zum himmlischen Vater, er möge sich ihnen offenbaren. Ich geriet in eine tiefe Versenkung. Ich war eins mit der Göttlichkeit des Vaters, und seine Göttlichkeit war eins mit mir. Als ich mich ihnen schließlich wieder zuwandte, starrten die drei mich so verängstigt und ehrfürchtig an, als sei ich nicht mehr von dieser Welt, sondern ein überirdisches Wesen. Auf meine Fragen stotterten sie heraus, was sie gesehen und erlebt hatten. Sie hatten nur auf mich geachtet. Dann hatten sie wohl die Tiefe und Kraft meiner Versenkung gespürt und wurden in diesem Sog selbst still und klar. Aber anstatt sich nun selbst ganz dem Herrn zu öffnen und ganz nach innen zu gehen, blieben sie auf halbem Weg stehen und starrten gebannt weiter nur auf mich. Dann ´sahen´ neben mir Mosche und Elijahu, ebenso ´verklärt´ wie mich. Und sie hörten eine Stimme, die sagte: ´Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe.´ Und das Verrückte ist: anstatt zu begreifen, daß sie die Stimme gehört hatten und daß sie damit gemeint waren - denn wir sind alle die Kinder des Vaters -, bezogen sie die Worte nur auf mich und sahen in ihnen den klaren Beweis, daß ich der Maschiach und ein göttliches Wesen bin. Ich war für sie der Sohn des Herrn. Im Grunde stimmt es ja auch - nur: dasselbe gilt für sie selbst und alle anderen Menschen auch! Aber anstatt ihre eigene göttliche Natur und Abstammung zu erkennen und mir endlich auch im Geiste Brüder zu werden und selbst zu sehen, anstatt mir nur zu glauben, trieb sie dieses Ereignis nur weiter weg von der eigenen göttlichen Erfahrung. Der Abstand verkleinerte sich nicht, wie ich gehofft hatte, er wurde riesengroß! Ich war Gottes Sohn - so hatte der Herr es ja selbst gesagt. Und sie waren nichts als unvollkommene menschliche Sünder, Abkömmlinge Adams, geschaffen aus einem Lehmkloß! Ihre Verehrung für mich, ihre völlig kindliche Hingabe an mich steigerte sich in einem Ausmaß, daß ich zutiefst erschrak. Ich verbot ihnen strengstens, über das, was sie auf dem Berg gesehen und erlebt hatten, zu reden. Aber du kannst dir vorstellen, was sie an Andeutungen und geheimnisvollen Anspielungen von sich gaben. Schon ihre Blicke, ihre Gebärden, ihre ganze Haltung offenbarte jedem Menschen mit einigermaßen wachen Sinnen, daß etwas Besonderes vorgefallen sein mußte. Ihre Ergriffenheit, Ergebenheit und Ehrfurcht sagten mehr als tausend Worte. So endete mein Versuch, sie der Gegenwart des Vaters näherzubringen ..."

Während er sprach, fing etwas in seinen Worten an, mich zu ärgern. Als er in einem langen, erschöpften Schweigen endete und seine Worte noch einmal an mir vorüberzogen, erkannte ich, was es war - und in einem plötzlichen Auflachen sagte ich:

"Warum hast du auch keine Frauen mit auf den Berg genommen?"

"Du lachst über mich?" In dem Dämmerlicht der Höhle erforschte er mein Gesicht. Dann trafen sich unsere Blicke - er verstand.

"Du meinst, wenn ich Frauen dabei gehabt hätte, hätten sie gehört: ´Dies ist meine liebe Tochter, an welcher ich Wohlgefallen habe´ - und es wäre nicht zu diesem Mißverständnis gekommen?"

Er lachte - und sein hohles, schmerzverzerrtes Lachen tat mir genauso weh wie seine verzweifelte und hoffnungslose Rede zuvor.

Er nahm meine Hände. "Laß mich noch zu Ende erzählen. Du weißt noch nicht alles. Ich will dir erzählen, wie ich auch der dritten Versuchung glorreich erlegen bin. Nach meinem vierzigtägigen Fasten gelangte ich am Rand der Wüste auf einen Berg. Auf dem Hang gegenüber lag ein Dorf. Als ich hinüberschaute, wurden wie durch einen Zauber Berge und Täler durchsichtig, und Zeiten und Räume waren nicht mehr getrennt. Ich sah alle Reiche der Welt vor mir liegen, und ich sah ihr Schicksal durch alle Zeiten. Ich sah das Land unserer Väter in seiner ganzen Länge und Breite. Und mein Blick reichte weit und weiter darüber hinaus: ich sah das Land der Griechen und der Römer. Ich sah das Land der Perser und aller Völker im Osten, im Westen und im wilden Norden. Ich sah die Reiche dieser Länder kommen und gehen, ich sah die vergangenen und die künftigen Reiche dieser und aller Welten. Und ich sah, wie sich die Könige und ihre Völker vor mir neigten, ich sah die Priester Räucherwerk vor mir anzünden und vor mir auf die Knie sinken - und alle warteten nur darauf, daß ich das Wort sprach und sie rettete. Die Liebe des Herrn floß in mich ein und begann, aus mir zu leuchten. Das göttliche Licht überstrahlte die Länder und Völker. Ich spürte die unermeßliche Macht, die steinernen Herzen zu erweichen und die Liebe des Vaters hineinfließen zu lassen. Ich brauchte es nur zu wollen, und alle Menschen würden die Liebe des Vaters selbst erfahren und erkennen. Allen würde sie offenbar, und jeder würde Gott in sich selbst wie im anderen erkennen. Haß und Feindschaft hätten ein Ende, und Liebe und Freundschaft regierten von da an allein. Ja, alle Liebe des Vaters war in diesem Augenblick in mir gebündelt - und an mir war es, alles Leid und Elend aus der Schöpfung zu tilgen. Ich konnte mit einem Schlag alle Menschen der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft aus ihrer Angst und Verblendung retten, wenn ich nur gewollt hätte.

Ich wollte schon das Wort sprechen - da erkannte ich meinen Frevel. Wer war denn ich, daß ich darüber urteilte, ob die Schöpfung des Vaters vollkommen oder unvollkommen war. Hatte der Vater von seiner Schöpfung nicht gesagt: ´Siehe, alles ist sehr gut!´ Wer war ich, daß ich nur in das Dunkel des Leides starrte? In leuchtenden Lettern standen die Worte aus Ijov vor meinen Augen: ´Wo warst du, als ich die Erde gemacht habe. Weißt du, wer ihr das Maß gesetzt hat oder wer über sie eine Richtschnur gezogen hat?´ Dies hatte der Herr dem Ijov aus dem Gewitter entgegengeschleudert, als das Ausmaß der Leiden Ijovs Fassungskraft überstieg und er in seiner Verzweiflung wagte, mit dem Herrn zu rechten. Ich hatte mit dem Herrn nicht gerechtet - ich hätte mich beinahe an seine Stelle gesetzt! Hatte ich denn Himmel und Erde erschaffen und zwischen Tag und Nacht geschieden? Hatte ich Licht und Dunkelheit, Freude und Leid getrennt? Wer war ich, daß ich mir anmaßte, in das Werk des Herrn einzugreifen und seiner Schöpfung das Ende zu bereiten? Denn wenn ich das Wort sprach - und Zeiten und Räume mit einem Schlag aufhob -, so war das das Ende aller Trennung und allen Leidens, und alles, was als Teil unvollkommen und bedürftig war, fand wieder ins Ganze. Wer war ich, daß ich alle Grenzen aufhob, um es ´besser´ zu machen als der Herr selbst? Ich hatte die Macht, das Ende aller Tage und Zeiten herbeizuführen - aber es war in Wahrheit nicht meine eigene Macht, sondern die Macht des Vaters, der mir seine Liebe und Kraft verlieh.

Ich war nur ein kleines Werkzeug in der Hand dessen, der alles erschaffen hat. Und ich erkannte, daß es nicht bei mir, dem Werkzeug, sondern allein beim allmächtigen Vater lag, das Ende aller Zeiten und allen Leides zu bestimmen. Ich riß mich aus meinem Traum. Denn ein Traum war es, daß ich der Erlöser von allem Leid, von aller Angst und von aller Schuld sein sollte. Ein Traum, den mir der Satan des Stolzes, der Überhebung, der Verblendung und der Vermessenheit eingegeben hatte. Einen Augenblick lang hatte ich mich von der Unermeßlichkeit und Fülle der Liebe überwältigen lassen und dabei weniger die Liebe als ihre Allmacht empfunden. ´Gebrauche deine Macht zur Rettung aller Menschen!´ Das war die Stimme des Versuchers, der mich doch nur von der göttlichen Quelle abschneiden wollte. Da lachte ich über ihn und schwor mir, allein dem Herrn, dem lebendigen Gott, zu dienen, in dessen Händen allein das Ende von Himmel und Erde liegt. Immer wieder betete ich: Du sollst Gott, deinen Herrn, anbeten und ihm allein dienen.

Als ich in der Wüste auch dieser dritten Versuchung widerstanden hatte, fühlte ich mich so leicht, so durchdrungen von der göttlichen Liebe, daß ich - sicher vor allen kommenden Versuchungen - im Dienst des Vaters in die Welt hinausgehen und den Menschen seine Liebe verkünden wollte.

Ich habe versucht, den leidenden, verzweifelten und geängstigten Menschen die göttliche Liebe und Vergebung nahezubringen und sie auf den Tag des Herrn vorzubereiten, an dem alles Leiden ein Ende hat. Und dieser Tag ist nahe - ich weiß es. Denn der Herr liebt uns Menschen. Und in seiner Liebe wird er sich uns leidenden Menschen erbarmen! Darauf wollte ich die Menschen vorbereiten. Ich wollte es nicht mehr erzwingen, nicht mit übermenschlicher Zaubermacht, nicht mit einem gewaltigen Machtwort, sondern allein durch die Kraft der Liebe und des Vertrauens.

Aber das Elend war so groß, so unerschöpflich! Allein war ich ein verlorener Felsen im Ozean, der von den Fluten zu Sand zerrieben würde, statt sie zu bändigen. Also suchte ich Schüler. Schüler, die ich lehrte, und die hundertfach, tausendfach das weitertragen sollten, was ich sie gelehrt hatte. Die Schüler würden durch mich Gottes Liebe erfahren. Und diese Liebe würden sie weitertragen - bis zu der Stunde, da der Herr selbst das Ende aller Räume und Zeiten hereinbrechen ließ. Mit Schim´on fing es an. Und dann wurden es immer mehr, die ich um mich versammelte.

Und was habe ich getan? - Ich habe meine Schüler von ihrer gewohnten Arbeit weggelockt, die ihnen nicht nur Brot und ein Dach über dem Kopf gab, sondern auch die Freude und Genugtuung, für sich und ihre Familien sorgen zu können. Ich habe sie aus den Armen ihrer Frauen und Kinder gerissen. Ich glaubte, ich würde ihnen etwas Besseres geben. Sie sollten ein Leben der Heiligung führen. Ich hielt es ja auch nicht für nötig, ein Handwerk zu erlernen. Warum Zimmermann werden wie mein Vater? Ich diente dem Herrn - und der Herr sorgte für mich und die Meinen. Aber auf diese Weise trennte ich mich von den Menschen und erhob mich über sie und ihr Leben. Sie blieben in den Sorgen und Nöten des täglichen Daseins gefangen. Ich diente dem Herrn - und sie durften mir dienen. Ich nahm das Brot aus ihren abgearbeiten Händen und ließ mir den Wasserkrug reichen. Sicher - ich saß bei den Zöllnern, ich scheute nicht vor Huren und Ehebrechern oder Aussätzigen zurück, aber nur deshalb, weil ich wußte: Ich war göttlich und sie waren göttlich, aber ihre Sorgen und Ängste waren nicht meine Sorgen und Ängste. Ich wußte überhaupt nichts von Sorgen und Ängsten!

So habe ich auch meine Schüler zu Werkzeugen der göttlichen Liebe gemacht - aber eben zu Werkzeugen! Sie selbst habe ich nicht gesehen und im Grunde nicht geliebt. Ich habe nur ihre Unsicherheit und Angst noch vergrößert. Nun fragen sie mich besorgt bei jedem Schritt, den sie tun, bei jedem Wort, das sie sagen, ob sie auch recht handeln und richtig reden. Sie versuchen, meinen Willen und meine Wünsche von den Lippen abzulesen. Ihren eigenen Willen, ihr eigenes Denken, ihr eigenes Urteilen kennen sie nicht mehr. Sie sind wie Frauen, die ihrem Mann gefallen wollen und ihm folgen, ohne ihn zu verstehen. Anstatt ihnen zu helfen, habe ich sie zu unmündigen Kindern gemacht. Anstatt daß sie selbst zum Herrn beten, anstatt daß sie Gott in sich suchen und finden, suchen sie ihn bei mir, außer sich. Sie fragen mich nach dem Weg und nach dem rechten Tun. Sie fragen, weil sie mich für heiliger und Gott näher halten als sich selbst. Und sie werden wiederum von den einfachen Menschen gefragt, die das Land bestellen, die Handel treiben und die glauben, daß meine Schüler die Frömmeren und Heiligeren sind - näher an Gott, dem Herrn, als sie selbst. Aber in Wahrheit habe ich sie zu Hoffahrt und Überheblichkeit verführt, denn selbst in der größten Demut vor mir und dem Herrn glauben sie nun, besser zu sein als die übrigen Menschen und mehr zu wissen als sie. Ich habe ihnen Liebe und Demut gepredigt - und Stolz und Trennung erzeugt.

Ich habe ihnen gesagt, sie sollten nicht an das Böse der Römer denken - sondern sich von dem Bösen in ihrem Herzen befreien. Ich habe versucht, ihnen den Balken in ihren eigenen Augen zu zeigen, wenn sie sich über die Splitter in den Augen der anderen ereiferten. Und während ich gegen die Mauern der Gesetze anrannte und die Priester und Pruschim bloßstellte als die erbärmlichen Schacherer und Buchhalter des Herrn, der doch der Gott der Liebe ist, merkte ich nicht, wie ich neue Mauern aufrichtete - und neue Buchhalter und Schacherer heranzog. Wie meine Schüler sich abmühen, gut zu sein, ohne daß es aus ihrer Liebe fließt! Wie sie um so verzweifelter ´das Böse´ draußen bei den anderen suchen, je weniger sie die Liebe in ihren eigenen Herzen finden! Sie möchten so sein wie ich - und weil sie es nicht sind, versuchen sie, ihre Schlechtigkeit vor sich und den anderen zu verbergen und weisen lieber auf einen, der noch schlechter ist als sie. Jeder will als der Bessere dastehen - nur niemals als der, der er wirklich ist! Mirjam, ich habe sie zu Heuchlern gemacht, statt sie die sein zu lassen, die sie sind! Und wer ist erfolgreicher als ein Heuchler des Guten! Die Menschen laufen ihnen schon nach wie mir. Und sie sehen nicht, wie meine Jünger sich untereinander belauern und vergleichen, wer von ihnen ´der Bessere´, der ´Frömmere´ und ´Heiligere´ ist.

Das Wort der Liebe gebiert Neid, Haß und Duckmäusertum. Und es gewährt unendliche Macht über Menschen, die an das Wort glauben - und nicht den Menschen sehen, der es ausspricht! Ich fürchte, ich bin so erfolgreich, daß sich Menschen und Völker noch Jahrhunderte und vielleicht Jahrtausende nach mir mit dem schönen Wort der Liebe abspeisen lassen, statt die Liebe selbst zu suchen. Und schlimmer noch: Wenn sie sich verzweifelt und vergeblich bemüht haben, diese Worte der Liebe zu leben, dann werden sie ihre Wut, daß sie versagt haben, an den anderen oder sogar am Nächsten auslassen!

Mirjam, ich habe euch verführt, bei mir, bei einem fehlbaren, sterblichen Wesen zu suchen, anstatt in eurem Innern. Und ich habe die Schüler zu Gefangenen meiner Lehre gemacht, anstatt sie in die Mitte ihrer eigenen Herzen zu führen. Nun verführen sie die anderen Menschen, ihr eigenes Göttlichsein zu vergessen und Gott in meinen Worten und Lehren zu suchen. Und vor allem lehren sie die Menschen, nicht mehr auf die eigene, sondern nur auf die Stimme der Propheten und Diener des Herrn zu hören.

Ohne daß ich es merkte, verfiel ich wieder dem Zauber der Macht - der Macht, über die Herzen der Menschen zu gebieten. Und ich verfiel der Angst, ich könnte mit meinen schwachen und begrenzten Kräften zu wenigen Menschen helfen, zu wenige Gott nahebringen. Ohne abzuwarten, bis sie selbst die Gegenwart des Herrn erfahren hatten, schickte ich die Schüler aus, in meinem Namen die Liebe des Vaters zu lehren. Ich gab ihnen meine ´Vollmacht´. Sie sollten nur an mich denken oder mich anrufen, wenn sie Hilfe brauchten. So tragen sie meine Hilflosigkeit und meine Angst immer weiter. Nicht sie selbst sprechen und segnen. Sie sind nur mein Mund und meine Hände dort, wo ich selbst nicht sprechen und nicht segnen kann. Sie lehren, was sie selbst nicht erfahren und nicht selbst gesehen und gehört haben. Wie ein dumpf wiederkäuendes Rind geben sie nur das weiter, was ich sie gelehrt habe.

Und weil sie selbst leer und bar jeder eigenen Erfahrung sind, werden sie sich immer nur auf meine Worte und Lehren verlassen. Das, was sie mit ihren verstopften Herzen, Augen und Ohren wahrgenommen haben, werden sie so verzerrt und entstellt weitergeben. Und alles wird wieder sein wie nach Mosche und nach Elijahu. Sie studieren meine Worte, meine Taten, meine Lehren - und wenn sie den inneren Sinn nicht begreifen, klammern sie sich an die Buchstaben und werfen ihr Wissen, ihren Kleingeist über die ´unwissenden, einfachen´ Menschen, die in ihrer Ohnmacht immer gerne glauben, daß andere gesegneter sind als sie selbst.

So wie jetzt im Tempel die Priester zwischen den Gläubigen und dem Herrn stehen, so werden auch sie sich zu Mittlern des Göttlichen aufwerfen und die Herrschaft über die Herzen der Menschen an sich reißen, die die schlimmste Herrschaft von allen ist. Denn was vermögen Waffen und Gewalt, wenn sich das Herz in der göttlichen Liebe geborgen weiß? Wenn aber das Herz den Priestern und Gelehrten übergeben wird, die selbst nichts von der Liebe wissen und darum um so ängstlicher an Worten und Buchstaben kleben - dann waltet nicht Gott in den Herzen der Menschen, sondern es regiert der Satan der Macht und der Überhebung. Dann herrschen Argwohn und Feindschaft - die Menschen klammern sich an die engen, kleinkarierten Bilder und die starren Auslegungen der Priester und Gelehrten. Sie machen die Worte Gottes zu ihren Götzen. Und weil sie nur an Götzen glauben und das lebendige, göttliche Ganze nicht sehen, werden sie sich bekämpfen und bekriegen - Götze schlägt Götze, und jedesmal erschlagen sie dabei den Menschen. Nun graut mir vor dem, was ich erzeugt habe. Es graut mir vor dem, was daraus erwachsen wird. Ich sehe Morden und erbarmungslose Kriege - alle im Namen des Glaubens und im Namen des Herrn, der doch namenlos und in allen Menschen und Lebewesen gegenwärtig ist.

Siehst du nun, wie meine Botschaft weiterfliegt und weitergetragen wird durch alle Reiche und Zeiten? Und wie die Menschen vor mir, dem Sohn und Vertreter Gottes auf Erden, und meiner Lehre niederfallen und mir huldigen werden? Wie es wieder Priester geben wird - diesmal in meinem Namen -, stellvertretend für mich, den Stellvertreter? Wie ich nicht mehr dem lebendigen Gott diene, sondern in Wahrheit dem Herrn der Verführung und der Macht?

Dies war die schlimmste aller Versuchungen: das unendliche Leid und das maßlose Elend der Menschen. Allen wollte ich helfen. Ich hatte der Versuchung widerstanden, selbst den Anbruch des ewigen Reiches zu bestimmen. Aber ich glaubte, die Menschen auf diesen Tag vorbereiten zu müssen. Ich wollte die Vielen zum Herrn führen. Und nicht ein einziger meiner Schüler, nicht einer der geheilten Kranken, nicht eine, die ich mit Brot und Fischen gesättigt habe, hat selbst wahrhaft die Liebe des Herrn geschaut. Sie lehren meine Worte, sie wiederholen meine Taten - aber ihre Worte und Taten sind nicht erfüllt von der ursprünglichen, unmittelbaren und göttlichen Liebe des Herrn, sondern nur von der schwachen Liebe des Werkzeugs. Meine Liebe ist in ihren Augen ein Wunder, weil sie so umfassend ist, daß sie sie nicht begreifen und nachvollziehen können. Aber meine Liebe ist nur der matte Abglanz der wahren, göttlichen Liebe. Wo bleibt das Licht des Mondes, wenn die Sonne aufgeht? Keinen habe ich zum Sonnenlicht der ursprünglichen göttlichen Liebe geführt. Im Gegenteil: So wie sich die Scheibe des Mondes zuzeiten frech vor die Sonne schiebt und sie ganz verdeckt, so daß der Mond sich mit ihrem seitlich ausbrechenden schimmernden Strahlglanz wie mit einem Heiligenschein zu schmücken scheint, so habe ich mich vor den Herrn gestellt und mich zu seinem Mittler und Stellvertreter auf Erden erhoben und lasse den Heiligenschein um mich leuchten. Nun tanzen und flattern sie glücklich im Licht meiner Liebe wie die Nachtfalter, die das Mondlicht schon betört.

Mirjam, ich habe versagt - versagt, wo ich helfen wollte. Ich wollte sie wie ein guter Hirte auf die grüne Weide führen. Aber in Wahrheit habe ich sie den Wölfen zum Fraß vorgeworfen. Es war alles falsch, was ich gesagt und getan habe. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll! Seit Tagen sitze ich hier und bete zu Gott, er möge mir ein Zeichen senden, sein Licht, damit ich wieder klarsehe. Aber ich sehe und höre nichts. Draußen scheint vielleicht die Sonne - aber ich sehe nur Finsternis um mich, und keinen Weg, keine Hoffnung, dieser Finsternis zu entrinnen.

Ich kann die Gegenwart der Menschen nicht mehr ertragen - nicht mehr die Menge, die mich begafft und ein immer tolleres Wunder erwartet, und nicht mehr meine Schüler, die sich schon wie die Priester und Pruschim gebärden und sich weiser, klüger, besser, heiliger und demütiger vorkommen als der Rest der Menschheit! Und dann habe ich ihre kleinlichen Streitereien so satt! Wenn ich nicht einmal die Herzen meiner engsten und vertrautesten Gefährten für die Liebe des Vaters öffnen kann - was soll dann mein Lehren und Predigen?

Gestern abend war ich so verzweifelt, daß ich meinem Leben ein Ende machen und mich von diesem Berg hinunterstürzen wollte. Ich hatte gebetet und gebetet - und hörte keine Antwort. Schließlich war ich so trostlos, daß ich aufstand und zum Gipfel hinaufstieg. Dann spürte ich eine Gegenwart und hörte wohl auch ein Geräusch. Ich kletterte hinab, um nachzusehen, was es war - und fand dich."

Er hob seinen Kopf und schaute mich lange und fragend an.

"Mirjam, du hast mir das Leben gerettet. Aber ich weiß eigentlich nicht, warum und wozu. Der Herr hat dich auf mein Beten und Flehen geschickt, aber ich verstehe seine Antwort nicht. Mirjam, was soll ich nur tun? Sag mir, was ich tun soll!"

Die wiedererwachte Lebhaftigkeit, die nun aus ihm sprach, war vielleicht noch schrecklicher als die bleierne Schwere der ersten Stunden unseres Wiedersehens. Es war die Lebendigkeit tiefster Verzweiflung - einer so trostlos düsteren Verzweiflung, daß sie das Leben in ihm fast ausgebrannt, aufgezehrt hatte und selbst - wie die Glut von der Asche - erstickt zu sein schien. Jetzt, mit dem Wiedererwachen des Lebens, wachte auch sie wieder auf.

"Jeschua, so darfst du nicht sprechen! Du hast aus der Liebe Gottes gelebt und gelehrt. Ich weiß es doch selbst. Ohne deine Liebe wäre ich noch immer der fühllose Stein! Ohne Hoffnung, ohne Liebe - voller Haß auf Jehuda und alle Menschen! Deine Liebe hat mich wieder zum Leben erweckt. Und ich habe dich deswegen nicht angebetet! Ich habe dich wiedergeliebt - aber niemals wie einen Gott. Du weißt es ja. Ich habe dich als Lehrer, als Bruder und als Mann geliebt - aber niemals als Gott!"

Er sah mich an. Nie werde ich diesen Blick vergessen. Ein flehender Blick, geboren aus Verzweiflung und Gram, der nur eins sagte: "Rette mich." Es war, als ob in diesem Blick das Leid der Welt gesammelt wäre. Etwas wehrte sich in mir und wollte wegschauen, weglaufen - aber meine Augen blieben wie gebannt in seinen Blick getaucht, konnten sich nicht lösen, mußten sich öffnen und Schmerz und Verzweiflung in sich hineinfließen lassen, sie auffangen und halten. Ich weiß nicht, wie lange wir so gesessen waren. Die Zeit war still geworden und die Welt um uns verschwunden. Es gab nur uns beide - einen ewigen und vollen Augenblick nur uns beide. Wir waren die Welt - er und ich und eines zugleich. In diesem Moment, als die Welt verschwand, als sie sich in uns auflöste, durchdrang mich ein wunderbares Gefühl von Heiterkeit und Freiheit. Verzweiflung und Leiden waren verschwunden - aufgelöst wie Nebel von den Sonnenstrahlen. Und wo eben noch Dunkelheit herrschte, leuchtete die Sonne aus einem klarblauen Himmel. Wir sahen einander an - und wir sahen uns selbst und die Liebe, die uns verband. Nichts anderes gab es mehr - nur uns beide und unsere Liebe. Nackt und klar erkannten wir sie. Unsere Körper neigten einander zu. Unsere Hände fanden sich, langsam und zart, erfüllt von dem Wunder der Liebe. Unsere Leiber erzitterten unter der Berührung, ein Schauer inniger, zarter und dann immer mächtiger werdender Lust durchfloß meinen ganzen Leib. Unsere Augen blieben ineinander geheftet, unsere Blicke durchdrangen sich, tauchten in die Liebe des anderen und wurden in dieser Liebe gehalten und getragen. Alles floß aus dieser Liebe und mündete wieder in sie ein - unsere Berührungen, unsere Küsse, die Bewegungen unserer Leiber. Wir lösten unsere Kleider. Die Liebe trug uns und machte uns frei. Unsere Körper waren Körper, die geliebt wurden und die lieben durften. Nichts schob sich mehr zwischen unsere Liebe - kein Gedanke an Ehebruch oder an Verrat am Herrn, kein Gedanke an Schüler, Pruschim oder Jehuda oder Alpheios. Es gab überhaupt keine Gedanken. Nur Sehen, Fühlen, Spüren, Wahrnehmen - unsere Liebe und den langsamen Tanz unserer Körper, die einzig der Liebe und dem ihnen eingeborenen Gesetz folgten. Wir griffen nicht ein, wir lenkten nicht - wir ließen geschehen, hellwach, bis zum äußersten klar und bewußt. Es war, als höbe die Liebe die Trennung von Geist und Leib auf, als erführen plötzlich linke und rechte Hand, daß sie nicht eigene abgesonderte Wesen sind, sondern gleichberechtigte Teile eines größeren Ganzen - der Liebe selbst. Die Liebe selbst handelte, und mein Kopf schaute zu - der überwältigte Zeuge eines Geschehens, das nicht mehr den vertrauten Wegen und Gesetzen folgte, sondern sich eigene, neue Bahnen brach und alles Erlebte, Bekannte und Vorgestellte zum Einsturz brachte und auflöste.

Die Vereinigung geschah - in endlos gedehnter Zeit. Liebe, Freude, Verwunderung, Lust schwangen zwischen unseren Augen und Herzen, pulsierten durch unsere Körper. Der Rhythmus der Leiber beschleunigte sich - und wir ließen es geschehen, unsere Augen in Liebe getaucht. Die Liebe trug uns fort, riß uns mit in ihren gewaltigen Strom. Der Strom schwoll an, wurde immer mächtiger, drängender. In langen Wellen schwoll und stieg er an, hob mich empor, durchflutete mich immer heftiger, schneller, daß mich die Macht der Liebeswellen fast zu zerreißen drohte. Dann, als flössen Geist, Seele und Körper in einer einzigen mächtigen Welle zusammen, wurde ich in diesem allesdurchdringenden Strom hochgerissen, mein Körper bäumte sich auf und schwang nun, selbst Welle geworden, ekstatisch zuckend auf und ab.

Alle Grenzen, alle Begrenzungen schmolzen dahin, lösten sich auf. Mein Körper, meine Seele und mein Geist öffneten sich, dehnten sich - stießen an keine Grenzen mehr und verströmten sich in die Weite des Alls. Ja, sie wurden das All, das Universum. Denn in uns, mit uns, durch uns pulsierte das All, die ganze Schöpfung - es gab keine Trennung mehr. Das ganze All war nichts als dieses lebendige, liebende Pulsieren. Nichts war fest, nichts war Form. Es gab nur die lebendige, göttliche, tanzende Energie, die alles erschuf, die alles enthielt. Es gab keine Zeit, keinen Raum - nur ein unendliches, ewiges, liebendes, lebendiges göttliches Jetzt. Raum, Zeit, Körper, Farben und Töne tanzten miteinander - flossen zusammen und trennten sich wieder. So schwebend und flüchtig wie Tanzfiguren, so schön und nicht greifbar wie die Töne eines Liedes, bildeten sich Formen und vergingen wieder. Die seltsamsten Verbindungen waren möglich. Alles und jedes konnte zu einer Einheit gewoben, vermischt oder getrennt sein. Mein Körper war eine bestimmte Art von Einheit. Aber statt fester Körper konnte es genausogut Einheiten der Farben oder Töne geben. Meine Wahrnehmung, meine Aufmerksamkeit bestimmte, was ich als Grundeinheit wählte - Farbe, Körper, Klang ... - Zwei und zwei ergaben nicht mehr notwendig vier, sondern konnte auch fünf oder eins oder drei sein - je nachdem, was ich als Eins ansah und dann verknüpfte. War die Eins ein fester Körper, eine Farbe, ein Ton, eine Zeit? Sah ich einen Körper, eine Fläche nur als Ganzes oder die Eckpunkte? Immer fiel das Ergebnis anders aus! - Das Gefüge von Raum und Zeit löste sich in ein Gespinst aufblinkender, tanzender Punkte auf. Es hing von mir ab, ob ich einen Körper, eine Gestalt durch die Räume und Zeiten verfolgte - oder in einem Punkt das Aufblitzen von Körpern und Räumen durch die Zeiten.

Alles löste sich in diesem wirbelnden Malstrom auf. Nichts Festes, nichts Greifbares gab es mehr - nur noch dieses Schwingen, das lebendige Chaos, das unablässig Formen gebar, sie wieder zerschmolz oder zerschlug und immer ins Formlose zurückholte. Es gab in Wahrheit keine Trennung von Mensch und Gott oder von Mensch und Tier und Pflanze und Stein. Wir alle - alles, was existierte: Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine - waren dieses schwingende, tanzende Einatmen und Ausströmen. Wir waren alle aus demselben Stoff. In uns strömte, in uns pulsierte die gleiche göttliche Energie, die alles Leben schuf - die alles Leben war. Und genauso unergründlich und unauslotbar wie diese lebendige, liebende Energie waren wir selbst.

Wer war ich denn? Ein Mensch? Eine Frau? Eine Jüdin? Mirjam, die Tochter des Schimschon? Die Frau des Jehuda? Die Hure des Goj Alpheios oder die Geliebte des Rav Jeschua? War ich gut oder böse, schön, klug, alt, häßlich, arm, reich? All diese Bestimmungen, diese Festlegungen und Eingrenzungen lösten sich auf. Sie waren weniger fest und beständig als die Schaumkronen der aufgewühlten See. Schaumblasen waren unsere Vorstellungen - leuchtende, funkelnde Gischt, aufstiebend in allen Regenbogenfarben. Und dann fielen die Tröpfchen zurück ins Wasser - und nichts blieb übrig als diese strudelnde tanzende Energie, die neuen Schaum, neue Gischt aufwarf. Nichts blieb, wie es war - jeder Augenblick wurde neu geboren, jeden Augenblick wurde eine neue Mirjam geboren. Jeder Augenblick war offen und neu, nichts war festgelegt. Es galt im Großen und im Kleinen. Einmal war ich Mensch, dann eine Mücke, einmal eine Frau, dann ein Mann, einmal eine Jüdin, dann eine Heidin, einmal gut - aber wann und wofür? Einmal schlecht - schlecht wann und wofür?

Es war ein Schock - der Schock der unendlichen Liebe und Freude, die ich auf einmal in mir, in jedem Wesen und im ganzen Kosmos entdeckte. Sie schwang und wirkte in allem, was war. Und ich war Teil dieses unfaßbaren, unauslotbaren, unendlich liebenden, unendlich schwingenden Ganzen, und dies allein war Gott! Ich war Gott - und Gott war ich. Und Gott war ganz anders, als ich mir vorgestellt hatte. Auch anders als Jeschua uns gelehrt hatte! Gott war jenseits aller Vorstellungen und Beschreibungen. Denn Vorstellungen sind schon nicht mehr das Ganze - sie teilen in zwei: in den, der vorstellt, und in das, was vorgestellt wird. Wie kann ich, ein begrenzter Teil, mir das Unendliche vorstellen oder es beschreiben, das doch das Ganze ist? Gott war nicht der königliche Herrscher, der fern im Himmel über allen Welten und den Menschen thront. Er war auch nicht der liebende Vater, der über seine Kinder wacht und sie belohnt oder straft.

Gott, das ist jenes freudig liebende und lebendige Pulsieren und Schwingen in mir und in allem, das es gibt - im Größten wie im Kleinsten. Wie der unaufhörliche Tanz der Wellen im Auf und Ab, wie das Flimmern der Sterne - Aufscheinen und Verlöschen und ein neues Wiederaufscheinen. Ein unaufhörliches Tanzen - und im Tanz die Lust, die Freude, neue Formen und Gestalten auszuprobieren. Die göttliche Lebendigkeit - sie schwingt in jedem Lebewesen: in der kleinsten Ameise, im riesigen Elefanten und im Menschen. Sie bringt Bäume zum Wachsen, Blumen zum Blühen. Sie pulsiert im Sandkorn und im Fels - nur auf andere Art, so daß wir Menschen sie nicht wahrnehmen können. Sie schlüpft in die Gestalt von Sonne, Mond und Sternen und bringt sie zum Leuchten. Alle Gestalten, alle Formen, alle Farben - sie sind nur für unsere einfachen Augen, für unsere einfachen, begrenzten Sinne unterschieden. Wir sind alle eins, und von der gleichen göttlichen Kraft getragen und bestimmt. Wir tanzen nur verschiedene Schritte und Figuren. Denn der göttlichen Lebendigkeit gefällt es, sich zu begrenzen, sich aufzusplittern, zehntausend mal zehntausend Formen anzunehmen, um sich dann mit den begrenzten Sinnen verwundert selbst zu betrachten, die neue Form zu schmecken, zu erkunden und mit ihr zu spielen. Wie ein Schauspieler sich in die verschiedensten Personen und Charaktere verwandelt, um eine andere Daseinsform zu erfahren und darzustellen. Und wenn er am Ende des Stücks aus der Rolle schlüpft, so nur, um am nächsten Tag eine neue Rolle anzunehmen und einen anderen Charakter vorzustellen.

In unserer menschlichen Begrenztheit und mit unseren begrenzten Sinnen mag es uns so erscheinen, daß es Leben und Tod gibt. Dabei ist der Tod nur das Zerfallen einer bestimmten Form. Das Leben, diese ungeheure göttliche Energie, fließt weiter und ergießt sich in eine neue Form, um neues Dasein zu schmecken und auszukosten.

Der Tod hatte in diesem Augenblick seinen Schrecken verloren. Er war keine Vernichtung, keine Auslöschung - nur eine Verwandlung, ein Überleben und Weiterschwingen in einer neuen Form. So wie auch das begrenzte, menschliche Leben nichts als Verwandlung ist: vom lallenden Säugling zum krabbelnden Kind, dann zum Jugendlichen, zum Erwachsenen und wieder hin zum zahnlos lallenden Greis. Die Lebensphasen sind verschieden, aber jede Phase ist notwendig und hat ihren Sinn im Ganzen, keine hat einen höheren Rang als die andere, keine von ihnen ist mehr oder weniger, wichtiger oder wertloser als die andere. Nicht anders ist der Mensch von der Mücke verschieden, nach der er achtlos schlägt - in Wahrheit sind sie eines, denn sie sind aus dem gleichen göttlichen Stoff. Der Mensch steht nicht höher als die Mücke - und die Mücke nicht niedriger als der Mensch.

Und das Wunderbare ist, daß in diesem wirbelnden Tanz nichts festgelegt ist oder fest bleibt. Diese pulsierende Lebendigkeit verdichtet sich, begrenzt sich, ergießt sich in Formen und Gestalten, um sich gerade in dieser Begrenzung zu erfahren. Denn wie soll sich das Ganze erkennen, wenn es sich nicht aufsplittert, aufteilt - und dann in seiner unendlichen Gebrochenheit lächelnd wiederfindet? Was weiß das Licht von seinen Farben, wenn es sich nicht in den Regentropfen hineinbegibt und in die sieben Farben zerspaltet?

So hatte sich die unendliche, schöpferische Kraft geteilt und hatte mich zu einem Menschen werden lassen. Aber was war das - ein Mensch? Ich war als Frau zur Welt gekommen. Aber was war das - eine Frau? Ich mußte es selbst erleben, selbst erfahren. Wozu hatte sich sonst die göttliche Energie in eine neue Form verwandelt? Wozu wurden sonst immer neue Formen und Wesen geboren? Glich denn eine Form, eine Gestalt einer anderen? Warum waren unsere Körper, unsere Gesichter so verschieden voneinander? Warum war der eine Mensch schnell und feurig und der andere langsam und bedächtig? Warum glich kein Auge dem anderen? Warum waren selbst die Tiere so verschieden voneinander? Und wenn wir zwischen der einen Ameise und einer anderen keinen Unterschied sehen können - liegt das an den Ameisen oder an unserem begrenzten Wahrnehmungsvermögen? Jede neue Form, jede neue Gestalt bietet eine neue Erfahrung - die göttliche Lebendigkeit erlebt und erfährt sich durch die Mannigfaltigkeit aller ihrer Teile.

Darum sind auch die einzelnen Gestalten und Teile des Ganzen so unendlich wichtig und kostbar: Jedes noch so winzige oder kurzlebige Teilchen oder Lebewesen trägt zur Erkenntnis und zur Freude des Ganzen bei. Jedes Wesen, jedes Teil darf sich in seiner eigenen Form und Gestalt ganz entfalten und erfahren - denn so erkennen alle das Neue und Einzigartige, das mit ihm in die Welt gekommen ist.

Es war verrückt. Meine Aufgabe im Leben war es nicht, ein "guter" Mensch zu sein, auch nicht eine gute und fromme Jüdin oder eine gehorsame Tochter und Ehefrau, eine treusorgende Mutter - meine Aufgabe war es, ich selbst zu sein - immer ganz ich selbst zu sein, jeden Augenblick von neuem! Genausogut hätte ich als Iuppiter verehrender Römer, als wilder, germanischer Barbar oder als Heuschrecke auf die Welt kommen können - um dann herauszufinden, was im Innersten meines Wesens angelegt war und es wachsen und gedeihen zu lassen. Ich, dieses Mirjam genannte menschliche Wesen, durfte ich selbst sein! Dazu war ich geboren worden - dieses eine und einzige Wesen zu sein und nichts anderes. Denn nur ich konnte ich sein und niemand sonst! Unendliche Freude, Erleichterung und Dankbarkeit erfüllten mich. Einfach die sein zu dürfen, die ich war! Nicht besser, nicht schlechter, nicht schöner, reicher, gesünder, edler, frömmer! So wie ich war, war ich gut - und alles, was existierte, war gut! Das ist unsere wahre Freiheit: dieses begrenzte Wesen auch sein zu dürfen, das wir sind. Unsere Begrenzung, unsere Einzigartigkeit ist unsere Freiheit, und keiner kann oder darf von uns verlangen, anders zu sein, als wir gerade sind! Niemand kann mir sagen, wer ich bin - wer sollte es denn auch wissen! Wer kann mir vorschreiben, wie ich sein soll? Wer könnte dem unerschöpflichen, unfaßbaren Göttlichen vorschreiben, welchen Weg es einschlagen, welche Form es annehmen soll! Werft doch das Netz eurer Vorstellungen und Vorschriften über mich - wollt ihr mit einem Sieb Wasser schöpfen? Wenn ihr meine Grenzen festlegen wollt - bestimmt doch erst eure eigenen, und seht, wie weit ihr damit kommt! Kein Gebote verkündender Herr, kein heidnischer Götze, kein Vater, kein Ehemann, kein Caesar und kein König kann mir sagen und vorschreiben, wer ich bin! Nicht einmal ich selbst kann es sagen oder vorgeben - aber ich darf es erfahren und in meinem Leben herausblühen lassen! So wie jedes Geschöpf sein eigenes Wesen zum Leben und Blühen bringen darf.

Und der Geist, das Bewußtsein, schaut bei diesem Wachsen und Blühen zu und freut sich über jede Erfahrung, die ihm diese neue Form, diese neue Gestalt bietet. Nichts ist feststehend und nichts ist festgelegt. Es ist nur unser kleiner menschlicher Verstand, der sich an die Erinnerung klammert und aus einer Erfahrung schließt, so wie es einmal geschehen ist, müsse es nun immer und überall geschehen. Es ist der Verstand, der zu untersuchen und zu begreifen versucht - und wenn er etwas gelernt und durchschaut hat, dann ist er so stolz auf seine Erkenntnis, daß er sie am liebsten in den Himmel heben und dort für alle Ewigkeit bewahren möchte. Aber gerade das ist das Unglück und die Wurzel von soviel Übel: wenn der Verstand nicht mehr Diener der Erfahrung sein will, sondern ihr Herr! Wenn er die Deutungen und Begriffe, die er durch eine vergangene Erfahrung gewonnen hat, für wirklicher hält als die Erfahrung des Augenblicks! Wenn er nicht mehr nur Zeuge sein will, sondern selbst bestimmen und vorgeben! Wenn er die neu heranwachsenden Formen und Gestalten unter die Erkenntnisse der Vergangenheit zwingt und Leben, Lebendigkeit und Freude erstickt - bis sie sich eines Tages mit Gewalt selbst befreien oder durch Liebe aus ihrem Gefängnis erlöst werden. Warum hatte ich Jehuda nicht von selbst verlassen? Weil ich gelernt hatte, daß eine Frau ihren Mann aus eigenem Willen nicht verlassen darf. Anstatt von Augenblick zu Augenblick herauszufinden, was für mich gut und richtig war, hatte ich mich einem überlieferten Gebot unterworfen, das mit mir und meiner Wirklichkeit nichts zu tun hatte. Anstatt selbst das Neue, Wahre herauszufinden, war ich unter der harten Kruste alter Vorstellungen geblieben, bis ich selbst verkrustet und fast erstickt war.

Ich hatte nicht nur mein ungeborenes Kind verloren. Ich hatte auch nie die wahre Mirjam auf die Welt kommen lassen! Erst jetzt, in der Erfahrung der unendlichen Liebe erkannte ich, daß es eine Mirjam gab, von der noch niemand etwas wußte, nicht einmal ich selbst! Und erst jetzt erkannte ich, daß wir nicht nur einmal geboren werden - wir werden jeden Augenblick neu geboren! Und jeden Augenblick dürfen und müssen wir herausfinden, was von uns neu geboren werden will - und was es noch nie gab. Denn das ist unser Schatz: das lebendige Entstehen und Wachsen von neuen Formen und Gestalten, das Erkunden des Unbekannten, das Spiel mit dem noch nie Dagewesenen. Jeder Augenblick ist ein Samenkorn, von dem wir noch nicht wissen, was aus ihm herauswachsen wird. Unser Glück und unsere Freude ist es, dieses Samenkorn selbst zu sein - und heranwachsen zu dürfen in eine neue, unbekannte und verheißungsvolle Welt, die auf uns wartet und uns braucht, um auch sich ganz entfalten zu können! Unsere Einzigartigkeit, unsere Besonderheit ist der Edelstein, der zur Leuchtkraft des Ganzen beiträgt. Darum braucht die Schöpfung unser Dasein, um selbst ganz zu sein - so wie wir die Erfahrung des Ganzen brauchen, um uns nicht als Ausgesetzte in der Weite des Kosmos verloren zu fühlen.

Ja, wir dürfen die sein, die wir sind. Und was wir sind, kommt aus unserem Innern, aus der lebendigen Quelle selbst. Wir brauchen nicht zu sein "wie"..., nämlich wie die anderen sind. Aber die Menschen wollen immer sein "wie": Wir Juden hatten einen König gewollt wie die anderen Völker auch, wir wollten einen sichtbaren Gott wie die anderen Völker auch und schufen uns das goldene Kalb. Aber der lebendige Gott sagte aus dem brennenden Busch zu Mosche nicht: "Ich bin wie ..." - er sagte "Ich bin, der ich bin!" Und das ist auch unsere Wahrheit: "Wir sind, die wir sind." Und das ist alles. Jeder Vergleich schränkt die göttliche Schaffensfülle ein, begrenzt die schöpferische Vielfalt und leugnet die Einzigartigkeit jeder einzelnen Form. Das dritte Gebot hätte genauso lauten können: "Du sollst nicht vergleichen - nicht Gott, nicht einen Menschen, nicht ein Geschöpf auf dieser Welt." "Du sollst dir kein Bildnis machen." Sicher, wir Juden beten keine Götzenbilder an. Aber was ist mit unseren Geboten, was ist mit der Torah, in der kein Jud gestrichen und kein Nun hinzugefügt werden darf? Was ist mit den Vorstellungen und Bildnissen, die wir uns von der Welt und den Menschen machen? Machen wir uns etwa kein Bildnis, wenn gelehrt wird, "Tue dies oder jenes nicht, sonst wird der Herr dich strafen!" Sind es keine begrenzten Bilder, wenn gelehrt wird, daß das Schwein unrein ist, daß die Frau unrein ist, wenn sie den Blutfluß hat, daß die Götzenanbeter im Sche´ol enden und keine Gnade finden? Alles, was existiert, was lebt und da ist, hat seinen Sinn und seinen Platz - selbst der Bösewicht, selbst der Heide, selbst unsere eigene Verblendung. Die allumfassende, göttliche Liebe ist so groß, daß sie uns auch in unserer Verirrung liebt, daß sie uns selbst mit blutbefleckten Händen und mit mordgierigen Herzen liebt. Denn auch unsere Verirrung und unsere Untaten gehören zum Ganzen - wie Schatten und Licht zusammengehören und in Wahrheit keine Gegensätze sind. Sie sind wie die zwei Seiten einer Münze - ohne Vorderseite keine Rückseite, ohne Rückseite keine Vorderseite. Nur weiß meist die Vorderseite nichts von der Rückseite und die Rückseite nichts von der Vorderseite. Jede hält sich für das Ganze, und in dieser Unwissenheit geraten sie in Streit. Sie vergleichen sich, sie bewerten sich - eine hält sich für besser als die andere. Hände und Füße sind unterschiedlich geformt und dienen verschiedenen Aufgaben. Es wäre töricht, wenn sie sich miteinander verglichen und sich wegen ihrer Unterschiede bekriegten - denn sie sind Teile eines Ganzen, unseres Körpers.

So ist es mit allen Lebewesen: Die Mücke, die mich in den Arm sticht, ist genauso ein Teil der Schöpfung wie alles, das existiert. Und selbst die kleinste und "geringste" Form ist demselben göttlichen Lieben entsprungen und vom Ganzen nicht unterschieden - so wie das kleinste Wassertröpfchen genauso Wasser ist wie das unendliche Meer. Und unsere Welt, die wir mit unseren Sinnen erfassen können, mag nur ein begrenzter Teil anderer Welten sein. Weitere Welten mögen neben uns und außer uns existieren, die wir nicht sehen und nicht wahrnehmen und doch so wirklich sind wie wir in unserer Welt. Und keine Welt ist höher oder niedriger als die andere, genausowenig wie der Mensch höher ist als das Tier oder die Tiere höher sind als die Pflanzen oder die Pflanzen höher als Erde, Steine und Felsen. In der unendlichen Vielfalt sind wir eins - gleich und verschieden, vereint und getrennt - denn ohne Berg gibt es kein Tal und ohne Tal keinen Berg. Sehen wir am Strand die Wellen des Meeres oder die Wellen des Windes? Es gibt keinen Unterschied, denn das Wassertal ist der Wellenberg des Windes und der Gipfel der Wasserwelle ist das Tal des Windes. Wind und Wasser sind ineinander verzahnt wie die Zapfen eines Schöpfrades.

Jeder und jedes ist zu seiner Zeit und an seinem bestimmten Platz im Gefüge des Ganzen. Wie ein Steinchen in einem Mosaik. Und wird nur ein Steinchen aus dem Mosaik herausgebrochen, so zerfällt das ganze Bild. Ohne dieses kleinen Steinchen, ohne die winzige Mücke, ohne mich wäre das Ganze nicht das Ganze, und ohne dieses unscheinbare Steinchen, ohne die lästige Mücke, ohne mich könnten die anderen Formen, Gestalten und Lebewesen nicht sie selbst sein. Alles hat seinen Sinn und seinen Platz im Ganzen. Ein großes Gefühl der Ehrfurcht und der Heiligkeit gegenüber allem, was "da" war, erfaßte mich. Die lebendige, liebende Göttlichkeit war in mir und in allem und jedem - in jeder Pore unserer Haut, im Stäubchen auf einem Holztisch und im Holztisch selbst. Gott lebte in uns, um uns. Nie waren wir getrennt, nie waren wir Fremde - nie waren wir aus dem Garten Eden vertrieben worden: Wir selbst hielten nur die Augen vor ihm verschlossen! Als ob die Menschen oder irgendein Wesen je von dem lebendigen Göttlichen getrennt sein könnten! Das göttliche Leben pulsiert in uns, ob wir es wollen oder nicht, ob wir es wissen oder nicht. Aber nur wenn wir die Göttlichkeit in uns erkennen, sehen wir Gott in allem, was ist, und der Garten Eden ist die unvollkommene, sündhafte Welt rings um uns her.

Die ganze Welt in uns und um uns war Gott. Nicht nur wir Juden, selbst die Römer, die Pruschim, die Götzendiener - wir alle waren göttlich, weil die göttliche Liebe in uns pulsierte und uns formte. Selbst das ekelhafte, "unreine" Schwein war göttlich - in ihm lebte und pulsierte die gleiche göttliche Lebendigkeit wie in mir. Selbst in den Kakerlaken, die mir bisher als die widerlichsten Geschöpfe überhaupt erschienen waren, sah ich das göttliche Sein. Ich konnte sie plötzlich ganz ruhig und voller Ehrfurcht betrachten. Ich konnte mir sogar vorstellen, ein Schwein zu berühren, ohne vor Ekel oder aus Angst vor Unreinheit zurückzuschrecken. Ich wußte, ein Mensch, der zum Dieb oder Mörder geworden war, war so göttlich und liebenswert wie alle anderen Wesen auch - auch wenn die Tat noch so grausam, furchtbar und durch nichts zu rechtfertigen war. Wenn der Dieb stahl und der Mörder sein Opfer totschlug, wenn die Gojjim ihre Götzenbilder anbeteten, so waren sie doch rein, göttlich und geliebt wie alles, das existierte. Nur daß sie von Angst, Haß, Neid und Gier verblendet waren und die Einheit und Verwandtschaft von allem, was existierte, nicht wahrnahmen. Sie wußten nichts von ihrer eigenen Göttlichkeit und von der Liebe, die in ihnen lebte! Ich hatte es nicht gewußt. Genausowenig wie es Cajin gewußt hatte und darum seinen Bruder Avel erschlug. Aber Cajin war genauso göttlich und geliebt wie Avel - ein Geschöpf der Liebe selbst. Darum wurde auch das Zeichen auf Cajins Stirn geschrieben, damit niemand ihn erschlüge. So war nicht Avel unser Vorfahr, der den Weg zum Herrn, zum Göttlichen gefunden hatte, sondern es war Cajin, der finstere, mißtrauische, unwissende, neidische und haßerfüllte Cajin, der geboren war aus dem Mißtrauen Chavas und der Angst Adams und ihrer beider Scham.

Ich sah die langen Jahre meiner eigenen Verblendetheit und Unwissenheit. Trauer und Schmerz, so lange mein wahres Selbst, meine wahre Herkunft nicht erkannt zu haben, überkamen mich. Wie begrenzt und niedrig hatte ich mich selbst gesehen! Wie hatte ich mich von engen, törichten und unwahren Vorstellungen einfangen und einzwängen lassen! Erst mußte ich eine gute, sittsame Tochter sein, um die "Liebe" und Anerkennung meiner Eltern zu gewinnen - und verlor sie sofort, als ich nicht mehr die war, die ich in ihren Augen zu sein hatte. Dann mußte ich eine gute, fügsame und nicht zu kluge Ehefrau sein, um Jehuda nicht zu ängstigen. Und selbst wenn ich um meiner Schönheit und Klugheit willen geliebt und geschätzt wurde, wie ich es bei Alpheios erlebt hatte - so hatte die Liebe immer nur einem begrenzten Teil von mir gegolten, nur einem Teil meines göttlichen Wesens. Und wenn ich mich damit zufrieden gab, so hatte ich mich verraten und erniedrigt - ich hatte den Teil für das Ganze genommen, Talmi für pures Gold. Und tief vor mir selbst verborgen hatte ich doch immer gewußt, daß dies nicht alles sein konnte - daß es mehr gab. Und diese Ahnung hatte mich unzufrieden gemacht, hatte mich all dem Leiden und Suchen ausgesetzt, hatte meine Abkehr von Jehuda und von Alpheios bewirkt. Und ich verstand das tiefe Leiden der Menschen - ihre Ängste, ihren Ärger, ihren Groll, ihren Haß und ihren Neid -, hinter dem sich doch nichts anderes verbarg als die Enttäuschung, daß sie nach einer Liebe gesucht hatten, die sie nicht finden konnten, da, wo sie gesucht hatten.

Dabei, wie einfach und klar war alles. Die schaffende, schöpferische Liebe ist immer da! Sie ist unser tiefstes Wesen. Sie schenkt uns das Leben, schenkt uns unsere Gestalt - unsere einzigartige und unverwechselbare Gestalt! Denn gerade in seiner Einzigartigkeit hat jedes seinen Sinn und seine Aufgabe. Steht nicht geschrieben: "Und der Herr sah alles an, was er gemacht hatte; und siehe da, es war sehr gut!" Ja, alles war gut und richtig - auch wir selbst waren "gut"! Wir hatten es nur vergessen oder wagten nicht mehr, daran zu glauben. Wir hielten im göttlichen Lieben und Tanzen inne, fragten uns, ob es richtig sei, was wir taten. Wir beäugten, beurteilten und verurteilten uns und die anderen. Wir wollten es besser machen und verloren uns selbst und den Zugang zur göttlichen Liebe und zum göttlichen Sein.

All dies und tausend andere Gedanken schossen mir blitzartig durch den Kopf, als ich unendlich glücklich, voll tiefen inneren Friedens in Jeschuas Armen lag. Eigentlich dachte ich diese Gedanken nicht - vielmehr sah ich sie. Ich sah sie, wie man auf einem Berggipfel mit einem Blick einen ganzen Landstrich übersieht, den man später im Tal Stück für Stück abschreiten muß. Ich sah und wußte mit einem Mal soviel Neues, so unendlich viel - und meine bisherigen Vorstellungen, die ich nur von anderen übernommen, geliehen oder kritisiert hatte, lösten sich in der Klarheit und Weite des frischen, lebendigen Geistes auf. Jetzt sah ich selbst und unmittelbar! Zum ersten Mal erkannte ich den Verstand und sein Denken und Schließen in seiner Einäugigkeit und Begrenztheit. Als hätte ich eine Landschaft bisher nur auf einer Fläche aufgemalt gesehen und stände nun plötzlich mitten in ihr und könnte ihren Raum durchschreiten. Und erst in der räumlichen Wirklichkeit gliederte und ordnete sich auf einmal alles klar und sinnvoll, was vorher wirr, unzusammenhängend, falsch, verzerrt, unrein oder verboten schien. Und wenn ich diese neue räumliche Anordnung beschreiben will, so muß der Verstand das, was ich mit einem Blick gesehen habe, mühsam in einzelne Gedanken zerlegen und Wort für Wort, Satz für Satz aneinanderreihen. Es ist, als hätte ich einen wunderschönen Teppich gesehen und könnte sein Muster, seine Bilder nur dadurch beschreiben, daß ich seine Farben Reihe für Reihe schilderte.

Jeschuas Stimme unterbrach die Flut der hereinbrechenden Bilder und Gedanken.

"Mirjam, was bin ich für ein Narr gewesen, was für ein dummer, törichter Narr - und ein eingebildeter und aufgeblasener Kerl dazu!"

Er lächelte mich dabei an, froh, erleichtert - und ein bißchen wehmütig. Wir fühlten beide dasselbe: Glück und unendliche Dankbarkeit und Freude darüber, endlich "aufgewacht" zu sein, vermischt mit der Wehmut des Abschieds von Kindertagen, als ein Spielzeug, ein Stückchen Kuchen die ganze Welt bedeutet hatten - und ihr Verlust den Verlust einer ganzen Welt bedeutet hatte. So wie man später über diesen Schmerz lächelt, weil er einer begrenzten Sicht entsprang, so lächelten wir jetzt über unseren bisherigen Glauben, über unsere bisherigen Vorstellungen von Gott und seiner Schöpfung, die nicht Gott und nicht die Schöpfung waren, für die wir sie gehalten hatten. Jeschua sprach weiter - zu mir, zu sich -, erfüllt vom Zauber der Liebe, vom Wunder der Erfüllung und überwältigt von einer neuen Welt, die auch ihm aufgegangen war.

"Wenn ich daran denke, daß ich dieses Glück vor drei Jahren von mir gewiesen habe, daß ich dich habe gehen lassen, dann könnte ich über diese vergeudeten drei Jahre weinen, wenn ich jetzt nicht so glücklich wäre! Aber damals war ich nicht der, der ich jetzt bin. Ich habe es damals nicht besser gewußt! Ich habe dich fortgeschickt, weil ich Angst hatte, Gott zu verlieren. Ich wußte ja, daß ich dich mehr liebte als ihn! Ich wußte nur nicht, daß ich ihn erst mit dir wahrhaft finden würde - in dir, in mir, in allem! Ich war gefangen in der kindlichen Vorstellung von Gott, dem gütigen, liebevollen Vater - und ich war sein liebender, gehorsamer Sohn. Gott, der Vater! Ja, meine Angst war begründet, denn in der Liebe zur Frau, in der Liebe zu dir, hörte ich auf, nur Sohn und Kind zu sein. Ich wurde Mann und Gott selbst, so wie du Frau und Gott selbst bist.

Wie habe ich meinen Körper all die Zeit so mißachten können! Mein Herz war beim himmlischen Vater und seiner unendlichen, ewigen Liebe, und mein armer Körper war nichts als ein vergänglicher Lehmkloß - in seinem kurzen Dasein Leiden und Schmerzen, Krankheit und Altern unterworfen. Hatte ich nicht selbst gesehen, daß es in Wahrheit keine Trennung zwischen den Körpern gab? Der Fels in der Wüste war mein Fuß - und er war das frische Brot. Hatte ich nicht die Völker und Reiche durch alle Zeiten und Räume hindurchgesehen? Wie sollte diesem flüchtigen, schwachen Körper irgendwelche Bedeutung zukommen! Er war ein Lehmkloß, und erst der Atem, den der Vater ihm einhauchte, gab ihm das Leben! Mein Körper war das Gefäß meines Geistes, meiner Seele - und nur zu oft ein störendes und hinderliches Gefäß! Er hungerte, wenn ich betete, er fror in der Kälte, er brannte vor Durst in der Sommerhitze und wurde krank und anfällig zu den unpassendsten Zeiten. Nicht daß ich ihn verachtete - der Körper war eine Schöpfung des Herrn. Aber dieser armselige Leib war wie die Pflanzen und Tiere, denen der Herr seinen Odem versagt hatte. Er war nur der Diener der göttlichen, ewigen Seele, die der Herr dem Menschen allein eingehaucht hatte. Ich sorgte für seine Gesundheit. Ich heilte ja auch Kranke und linderte ihre Schmerzen. Aber im übrigen achtete ich nicht auf ihn. Nicht auf die kurzen Freuden war ich aus - sondern auf die lange Seligkeit.

Dann kamst du. Du warst nicht nur eine schöne und kluge Frau - ich spürte deine Kraft, deinen Ernst, deine Bedingungslosigkeit - und deine Offenheit, deine Neugier, deinen echten Wissensdurst, dein Verlangen nach wirklichem Leben. Ich spürte, daß du mir verwandter und näher warst, daß du mich unmittelbarer verstandest als die anderen Schüler. Ich spürte deine Gegenwart, auch wenn du dich immer abseits hieltest und dich nie vordrängtest. Und ich hatte dich für einen kurzen Moment in meinen Armen gehalten, und mein Körper begann zu sprechen. Nicht das erste Mal - aber noch nie so heftig, so andauernd, so schmerzhaft in seiner Sehnsucht. Ich merkte, daß ich innerlich meine Worte immer an dich richtete, wenn ich zu den anderen oder zu einer großen Versammlung sprach. Du gewannst eine Macht über mich, die mir Angst machte. Denn ich dachte mehr an dich, an deine Liebe und an deinen Körper als an den Herrn und die ewige Seligkeit. Mein Körper war dein stärkster Verbündeter. Wenn ich beten wollte, sträubte er sich und verlangte nach dir. Wenn ich den Segen sprach, segnete ich dich. Deine Macht war so groß, daß ich meinen Glauben an den himmlischen Vater - daß ich meine Berufung, mein ganzes Dasein bedroht sah. Andererseits konnte und wollte ich dich auch nicht fortschicken. Du warst meine Schülerin. Ich wollte gerade dir die wahre, die unendliche Liebe Gottes nahebringen - und kämpfte verzweifelt gegen die Liebe zu dir, einer einzelnen Frau. Eine Liebe, die alle anderen Menschen ausschloß, erschien mir falsch und selbstsüchtig, fern von der grenzenlosen Liebe des Herrn. Ich wollte meine Liebe nicht beschränken und in zu große Nähe zu einem Menschen verstricken lassen. Warum sich in Vergänglichem verlieren? Zwei sterbliche Menschen - zwei sterbliche Körper. Ich wehrte mich dagegen, daß du für mich eine ganz besondere Bedeutung haben könntest. Alle Lebewesen waren bedeutend. Alle waren wir Geschöpfe des Herrn. Warum also diesem Körper, warum deiner Person mehr Liebe schenken als allen anderen? Für mich stand es fest, daß der Tag des Herrn ganz nah war - und an diesem Tag würde es zwischen uns sowieso keine Trennung mehr geben.

Ich weiß nicht, was damals in mich gefahren ist, daß ich dich zum Reden zwang. Ich wußte sehr gut, was dich so befangen machte. Ich glaube, ohne eine Klärung hätte ich es nicht mehr ausgehalten. Im Grunde wußte ich, daß du fortgehen würdest, wenn wir einmal offen gesprochen hatten. Denn du konntest diesen Zustand ebensowenig länger ertragen wie ich. Aber ich wehrte mich verzweifelt, die Trennung als Lösung anzunehmen. Manchmal erschienst du mir auch als eine neue, viel mächtigere Versuchung als die, die mir in der Wüste auferlegt wurden. Nicht, weil du mich verführen wolltest. Nein, ich wußte, daß es für dich genausowenig ein Spiel war wie für mich. Du warst nicht halbherzig, du liebtest mich ganz. Deine Seele, dein Geist, dein Körper liebten mich. Gerade darin schien sich die Heimtücke Satans zu verbergen - mit deiner unendlichen Liebe zu mir konnte er mich um so leichter in seine Gewalt bekommen. Als du mich dann einen Feigling nanntest und meine Liebe zu Gott beschimpftest und den Herrn selbst, war ich sicher, daß der Versucher mir in deiner Gestalt nahegetreten war. Mein Geist wurde wieder ruhig, meine Seele fand Frieden bei Gott. Nur mein Körper verlangte noch nach dir - wieder ein Zeichen der Versuchung! Mutter erzählte mir einmal beiläufig, daß du nach Caesarea gegangen seist. Ich war verblüfft, daß ihr Verbindung hattet. Und ich war entsetzt, daß es dich in dieses neue Bavel gezogen hatte! Nun war ich mir gewiß, daß du eine Prüfung warst, die der Vater mir auferlegt hatte. Du warst die größte Versuchung, meine härteste Prüfung - aber ich hatte auch diese Probe bestanden. Aber zum ersten Mal war ich nicht glücklich danach. Es war ein Sieg, der mich müde und kraftlos machte, anstatt zu erfrischen.

Natürlich hattest du recht - ich war ein jämmerlicher Feigling. Als ob es einen Unterschied zwischen der Liebe des unendlichen lebendigen Gottes und der begrenzten, vergänglichen Liebe zwischen Mann und Frau gäbe! Als ob Liebe sich aufspalten ließe! Als ob es eine Rolle spielte, was oder wen ich liebe - ob Gott in seiner Unendlichkeit oder eine sterbliche Frau wie dich! Das Entscheidende liegt nicht darin, ob ich eine kleine Blume oder den endlosen Himmel liebe - es liegt darin, wie ich liebe! Liebe ich ganz und gar - oder nur halbherzig, voller Vorbehalte? Nur wenn ich ganz liebe, bin ich dem Göttlichen nahe. Und wenn ich halbherzig liebe - nur einen Teil von Gott oder einen Teil von dir, dann verliere ich das Ganze und verliere Gott. Aber wenn ich dich ganz liebe, dann liebe ich auch Gott ganz. Und wenn ich Gott ganz liebe, liebe ich auch dich ganz - oder auch einen Kieselstein!

Mir ist jetzt erst klar geworden, daß ich in Wahrheit Gott nie ganz geliebt habe - weil ich auch mich und meinen Körper nicht geliebt habe! Nur deshalb konnte ich auf einen solchen Gedanken kommen, mit einem Schlag durch alle Räume und alle Zeiten die Menschen zu ´erleuchten´. Die störenden Körper spielten endlich keine Rolle mehr! Jetzt erst, nachdem ich meinen Körper in deiner und meiner Liebe erfahren habe, ist mir jedes existierende Stückchen Form so unendlich kostbar! Wie wunderbar und einzigartig unsere Körper sind! Wie eins mit dem anderen zusammenarbeitet und doch ganz verschieden voneinander ist! Augen, Ohren, Fingernägel, Magen, Blut - unser Geschlecht! Wie wunderbar auch diese Schöpfung ist! Wie wunderbar die göttliche Schöpfung, die sich in diese unendliche Vielfalt verwandelt - und immer weiter verwandelt! Pflanzen, Tiere, Erde, Steine - Wesen, Formen, Gestalten - alle einzigartig und alle aus demselben Stoff, aus dem wir selber sind! Mirjam, seit ich dich wirklich liebe, liebe ich nicht nur wahrhaft Gott - ich liebe plötzlich die ganze Welt und jedes winzige Sandkorn darin!

Ich habe immer nur gesehen, wie die Menschen leiden, weil sie sich in ihrer Angst und Unsicherheit an vergängliche Dinge und Vorstellungen geklammert und darin verloren haben. Sie haben nicht ganz zu lieben gewagt und Gott und die Liebe darüber verloren. Aber jetzt weiß ich auch, daß das gleiche Elend und das gleiche Leiden aus der Mißachtung des einzelnen Teils und seiner besonderen Form fließt. Wer nur die Unendlichkeit und die Ewigkeit liebt, vergißt Gott ebenso wie der, der nur das Sichtbare, Greifbare liebt. Es ist Frevel, wenn wir Menschen nur das vergängliche Fleisch, nur die begrenzte Form lieben. Aber ebenso frevelhaft ist es, nur den ewigen, unendlichen Geist und allein die unsterbliche Seele zu lieben. Das allein ist die lebendige Wirklichkeit: die Verschränkung von Unendlichkeit und Begrenztheit. Eines ist im anderen enthalten, eines verwandelt ins andere. Unendliches wandelt sich in Form, Form löst sich in Unendlichem. Der ewige, lebendige Geist taucht in Gestalten und Formen, verdichtet sich zu vergänglichen, aber einmaligen, einzigartigen und darum so kostbaren Körpern, nur um sich gleich wieder in neue Formen, Gestalten, Welten, Reiche und Zeiten zu verwandeln. Ein ewiges Tanzen in Formen und Figuren. Und meine Seele liebt deine Seele, mein Geist liebt deinen Geist - und mein Fleisch liebt dein Fleisch. Und in dir, durch dich, mit dir liebe ich die ganze Welt, den ganzen Kosmos - durch alle Zeiten und Räume hindurch! Denn in ihnen lebt die Liebe genauso wie zwischen dir und mir!"

Wir lachten. Jeschua zog mich an sich und küßte mich. Es gab keine Trennung zwischen uns. Er sprach aus, was ich selbst wußte, was ich selbst erkannt hatte - mit ihm und durch ihn. Und wie wunderbar war es, mit dieser Erkenntnis nicht allein zu sein, sondern sie teilen zu können! Wir fanden wieder zueinander. Und mit unseren Leibern tanzte der Kosmos, es tanzten alle Engel und Dämonen. Es gab keinen Garten Eden, der auf uns wartete, es gab kein Sche´ol, das uns zu verschlingen drohte. Wir waren Teil der unendlichen lebendigen Liebe und eins mit ihr - weit jenseits vom Garten Eden und jenseits vom Sche´ol, die hinter uns verblaßten.

Es war Jeschua, der den Gesprächsfaden wieder aufnahm.

"Noch etwas ist mir klar geworden: Weil ich an dem falschen Bild von Gott als dem Vater hing - weil ich mich überhaupt an ein Bild von Gott klammerte -, predigte ich auch zu den Menschen wie ein Vater zu den Kindern - und wie Kinder hingen sie an meinen Lippen, glaubten blind meinen Gleichnissen und bestaunten ehrfürchtig meine Taten und Wunder. Aber Gott fanden sie dadurch nicht. Wenn der Lehrer selbst noch ein Kind ist - wie sollen seine Schüler erwachsen werden! All mein Lehren und Tun brachte sie keinen Fingerbreit näher zu Gott! Wie kann man auch von Gott sprechen - man kann ihn nur selbst erfahren! Anstatt zu reden, hätte ich mich ihnen verweigern müssen. Vielleicht wären sie dann selbst losgegangen - und der eine oder andere hätte Gott auch gefunden. Ich habe ihnen nur Worte, nur neue Lehren gegeben - und ein paar Wunder, die sie verwirren! Um so mehr sehen sie nun auf mich, anstatt selbst auf die Suche zu gehen! Anstatt sie freizugeben, habe ich sie immer stärker an mich gebunden! So sind sie unmündige Kinder geblieben.

Wie unglaublich dumm und töricht ich war! Wie kindisch und vermessen! Ich war der große Rav, der alles wußte! Ich wußte, was den Menschen fehlte und was sie wieder heil machen würde. Ich wußte natürlich auch, daß der Herr das Ende aller Zeiten vorgesehen hatte, damit alle Menschen ihn und seine Liebe erkannten und erfuhren. Ich lehrte die Liebe des Vaters - und wußte nicht, was Liebe ist!

Jetzt erst ist es mir klar geworden: Wirkliche, wahre Liebe liebt alles und jedes gerade so, wie es ist. Wahre Liebe liebt den Leib in seiner Vergänglichkeit und den einzelnen Menschen in seiner Besonderheit, Begrenztheit und Schwäche. Er liebt ihn in seiner Verblendung - selbst in seinem dunklen Haß, in seiner wütenden Feindschaft und in seiner Angst. Wahre Liebe drängt sich nicht auf. Sie hat keine Vorstellung, wie Menschen und Wesen und Dinge sein sollen. Sie ist nichts als unendliches Vertrauen in uns unvollkommene Wesen, daß wir von selbst - zu unserer Zeit und nach unserem Vermögen - wachsen und erkennen und das göttliche Ganze erfahren werden.

Wer sagt der Rose, daß sie eine Rose mit Blüten und Dornen sein soll? Die Rose weiß es selbst. Wer sagt der Tamariske, daß sie zu einem Baum heranwachsen soll? Die Tamariske weiß es selbst. Wer sagt den Vögeln unter dem Himmel, wohin sie fliegen sollen? Sie wissen es selbst! Warum sagen wir immer den Menschen, was sie sein oder werden sollen? Wissen sie es inwendig nicht selbst? Wie kann ein Teil des Ganzen wissen, was für die anderen Teile gut ist und was nicht? Ich habe den Menschen gepredigt, daß sie sich nicht um Essen und Kleidung zu sorgen brauchen. Ich habe ihnen die Lilien auf dem Felde gezeigt, die sich nicht um den nächsten Tag sorgen, nicht arbeiten und doch wachsen und gedeihen. Ich habe ihnen die Vögel gezeigt, die nicht säen, nicht ernten und nicht sammeln und doch von der göttlichen Liebe ernährt werden. Hätte ich nur geschwiegen! Aber ein Kind, das laufen lernt, fällt noch leicht hin, auch wenn es sich schon sicher fühlt. Was nützt das Weinen? Es muß aufstehen und versuchen, von neuem zu gehen, bis es sich frei und sicher bewegen kann! Was ich ihnen so altklug vorgehalten habe, habe ich tausendfach selbst getan! Sie sollten sich nicht um Essen und Kleidung sorgen - dafür sorgte ich mich um ihr Heil! Der Blinde ermahnte die Blinden - oder muß ich sagen, die Sehenden? Anstatt zu erkennen, daß die göttliche Liebe die Menschen so geschaffen hat, wie sie sind und daß sie so sein dürfen, wie sie jetzt gerade sind, wollte ich es erzwingen, sie vorzeitig aufwecken und schneller zu Gott führen! Als ob sie nicht längst in der göttlichen Liebe geborgen sind! Anstatt auf die allumfassende göttliche Liebe zu vertrauen, die jedes Wesen nach seiner Art und seiner Zeit wachsen läßt, habe ich auch noch Schüler ausgeschickt, damit sie die Menschen zu Gott führen!

Jetzt erst weiß ich: Wahre Liebe drängt sich nicht auf - sie zieht und zerrt nicht. Sie läßt wachsen und gedeihen und wartet geduldig auf das, was aus dem Samenkorn aufkeimen wird. Ist es denn Liebe, den noch geschlossenen Blütenkelch von außen aufzublättern, damit die Rose jetzt schon blüht? Ist es Liebe, den blinden Hundewelpen die Augen aufzureißen, bevor sie sie selbst öffnen? Ist es Liebe, das Kind vorzeitig aus dem Mutterleib herauszuschneiden, nur damit es endlich auf die Welt kommt? Ist es Liebe, den Menschen von Gott zu sprechen, bevor sie ihn selbst erkennen können und wollen? Ist es Liebe, das Herz der Menschen mit Angst und Schrecken zum Zittern zu bringen, nur damit es schneller Zuflucht bei Gott und der göttlichen Liebe sucht?

Das Kind lernt laufen und sprechen, wenn es dazu bereit und fähig ist. Genauso wird der Mensch die göttliche Liebe erfahren, wenn er selbst dazu bereit und fähig ist. Nicht ein göttlicher Herr bestimmt Zeit und Stunde, da sich die göttliche Liebe offenbart - der Mensch wächst ihr von selbst entgegen. Und wenn er bereit ist, sich zu öffnen und sich der Liebe hinzugeben, dann wird er sie erkennen, so wie die Blüte die Sonne sieht, wenn sich die Knospe von selbst öffnet. Zu seiner eigenen Zeit wird jeder Mensch die göttliche Liebe finden und sich in ihr selbst erkennen. Niemand muß ihn dazu gewaltsam aufwecken oder hinführen.

Ist es nicht die Freude der Eltern, daß das Kind selbst seine Beine und Füße zu gebrauchen lernt - daß es selbst gehen und laufen kann? Ist es nicht die ganze Freude eines Kindes, selbst etwas zu tun: selbst zu gehen, selbst zu sprechen, sich selbst anzukleiden, selbst zu lesen und zu schreiben? Wäre es denn Liebe, wenn die Eltern die Beine und Füße ihres Kindes an Stecken binden und dann herumführen würden, damit es erfährt, was Gehen und Laufen ist? Ist nicht die Freude viel größer, wenn das Kind seine Fähigkeiten nach und nach selbst entdecken und selbst entfalten darf?

Die Eltern, die ihr Kind lieben, kommen nicht auf den Gedanken, ihm das Laufenlernen abzunehmen. Sie hören auf, das Kind auf ihren Armen zu tragen, wenn es selbst krabbeln und laufen will. Und sooft das Kind noch zu Boden fällt, werden sie es trösten. Aber sie lassen es weiter selbst Schritt vor Schritte setzen und schauen geduldig zu und freuen sich mit ihm, wenn es schließlich frei steht und geht. So sind wir Menschen geschaffen, selbst unseren Weg zu finden. Die unendliche göttliche Liebe wird uns immer trösten, wenn wir straucheln - aber den Weg müssen und dürfen wir selbst finden!

Ist darum die Freude, Gott zu finden, nicht viel größer, wenn jeder Mensch seine göttliche Natur selbst entdecken darf? Die göttliche Liebe läßt jeden Menschen seinen eigenen Weg wählen, läßt jedes Wesen seinem eigenen Pfad folgen - wann, wo und wie es will. Es gibt keine festgelegte Stunde - und keine vorgeschriebenen Straßen und Wege. Es braucht keine Wegweiser, keine Lehren, keine Lehrer! Wie wunderbar ist es, so frei und geborgen zugleich in dieser weiten und unendlich geduldigen Liebe zu leben!

Ich muß alles ganz anders anfangen - ich weiß nur noch nicht wie. Du wirst mir dabei helfen, Mirjam. Wenn sie morgen kommen, werde ich sie heimschicken. Ich höre auf, zu lehren und zu predigen. Ich bin kein Rav und kein Lehrer mehr. Und sie werden nicht mehr meine Schüler sein. Ich höre auf, ihnen den Weg zu weisen und ihnen die Freude am eigenen Tun und Erkennen zu rauben. Ich höre auf, meine Liebe und mein Wissen an ihre Stelle zu setzen. Ich hielt sie für schwach und unwissend und glaubte, sie brauchten meine Hilfe. Ich wollte sie stützen, so wie man einen Gebrechlichen mit einer Krücke stützt. Dabei brauchen sie überhaupt keine Krücken! Im Gegenteil: Binde einen Gesunden an eine Krücke, und er wird krank! Genau das habe ich getan! Ich habe sie aus ihrem Leben gerissen und sie an meines gebunden. Jetzt sind sie hilfloser als je zuvor, denn sie haben einen Blick auf eine Macht und Liebe getan, die sie bis dahin nicht gekannt und nicht in sich verspürt haben. Nun glauben sie, sie müßten ebenso dazu fähig sein und sind es doch nicht. Und aus Angst und Scham eifern sie mir blind in allem nach, anstatt darauf zu vertrauen, daß sie ganz natürlich und auf ihre eigene Weise zu dieser Liebe und Erkenntnis heranreifen. Jetzt sind sie unzufrieden mit sich und der Welt, weil sie sich selbst an etwas anderem messen und nicht mehr wagen, die zu sein, die sie sind. Ich habe sie mit meiner Gegenwart und meiner Liebe berauscht. Genauso gut hätte ich sie mit Wein oder Pflanzensäften trunken machen können! Und wie dem Trunkenen nach seinem Rausch erscheint ihnen ihr eigenes Leben ohne meine Gegenwart, ohne meine Liebe armselig und leer. Ich habe den Menschen nicht gegeben - sondern genommen. Ihr eigenes kleines und doch so kostbares, einzigartiges Leben habe ich in meine Hände genommen und nach meinem Gutdünken geknetet und geformt. Ich glaubte, sie zu heiligen und habe sie statt dessen wie ein Betrüger um ihr eigenes Leben, ihr eigenes Erkennen, ihr eigenes Wachsen gebracht!

Ja, ich höre auf, Lehrer und Rav zu sein. Ich schicke Schim´on und die anderen zurück. Ich werde sie von mir entwöhnen, wie man einen Trinker von seiner Sucht entwöhnt. Sie werden selbst ihren Weg finden. Ich habe es ihnen zu einfach gemacht, als ich sie um mich sammelte. Sie haben nur mich und meine Liebe gesehen - und nicht, daß sie selbst lieben können! Ich hätte sie bei ihren Frauen und Kindern lassen sollen. Sie sollen Gott bei ihnen suchen und nicht in meinen Lehren! Sie sollen Gott in ihrer Arbeit suchen! Ich habe sie von ihren Fischerkähnen weggeholt, um sie zu Menschenfischern zu machen. Ich schicke sie wieder zu ihren Kähnen zurück. Sie sollen wieder Fischer werden, die bei jedem Fischfang Gott selbst finden. Sie sollen Gott suchen bei ihren Feiern und in ihrer Krankheit und selbst im Tod. Und wenn sie Gott gefunden haben, sollen sie nicht darüber reden und anderen predigen, sondern bei ihrem Handwerk bleiben. Als ob sie reden müßten! Wenn sie die Quelle gefunden haben, werden sie überquellen vor Glück, so daß die Menschen um sie herum anfangen werden, sich zu fragen, welche Kraft sie beseelt, denn auch Unglück und Elend wird sie nicht mehr schrecken! Nicht lehren, nicht predigen - einfach leben. Alles andere kommt von selbst! Sie brauchen nur zu lieben! Im Grunde ist es ganz einfach! Soll ich sie nach Hause schicken, damit sie ihre Frauen und Kindern wirklich anfangen zu lieben?"

Wir mußten beide lachen. Ich stellte mir die perplexen Gesichter von Schim´on und besonders von Bar-Tolmai vor, wenn Jeschua ihnen diesen letzten Auftrag gab. Wir standen auf und traten vor die Höhle. Bergabwärts verengte sich die Schlucht - die schon steilen Berghänge verwandelten sich in wilde und schroffe Felswände. Spalten und Risse hatten sich wie Narben in den Fels gefressen, hatten die Wand zerfurcht, zersprengt und sie ausgehöhlt. Kahl, bizarr und wild waren diese Berge - und erhaben schön. Alles, was wir sahen, alles, was es gab, war schön. Die Welt war mit einem neuen Zauber umglänzt. Ich sah diese harte, abweisende Wüstenlandschaft mit ganz neuen Augen, hörte das Zirpen einer Grille mit neuen Ohren - erkannte diese Welt mit einem noch nie dagewesenes Gefühl der Gleichheit und Verbundenheit. Und in dieser neuen Sehweise, in dieser neuen, wunderbaren Erkenntnis, die die Frische eines eben erst angebrochenen Tages ausstrahlte, war auch noch das alte Sehen und Denken gegenwärtig, das sich über meine Unvernunft verwunderte, in einem Felsbrocken meinen Bruder zu erkennen und in dem glühenden Sonnenball meine Schwester.

Ich dachte plötzlich an Jehuda.

"Willst du mich auch zu meinem Mann zurückschicken - wie die anderen zu ihren Frauen?"

Langes Schweigen. Dann begann er zu lachen.

"Ich fürchte, ich werde es nie lernen! Schon wieder predige ich und weiß, was die Menschen tun und lassen sollen! Nein, ich werde sie nicht zurückschicken. Ich sage ihnen überhaupt nicht, was sie tun sollen. Ich werde einfach aufhören, ihr Rav zu sein. Ich höre auf, sie zu lehren. Dann müssen sie sich selbst etwas einfallen lassen! Und die übrigen - alle, die nur darauf warten, daß ich sie von den römischen Besatzern befreie -, nun, damit ist es auch vorbei! Mirjam, seit heute sehe ich keinen Unterschied mehr zwischen uns Juden und den Heiden und den anderen Völkern! Solange ich an Gott den Vater glaubte, war meine Liebe nur halb. Und auch meine Vorstellung von der Liebe des Vaters war nur eine halbe Liebe. Ich hatte vielleicht mehr von seiner Liebe gewußt als die Rabbanim und Zedokijim, die seine Liebe unterschlugen, um mit Drohungen und Strafen über das Volk zu herrschen. Aber ich hatte wie sie geglaubt, Gott sei der Gott Avrahams, Ya´akovs und Josefs und der Söhne Jisraels. Wie tief, wie unermeßlich seine Liebe in Wahrheit ist, habe ich erst jetzt erfahren. Ich habe erfahren, daß er die Heiden auch als Heiden liebt, und nicht erst, wenn sie an ihn glauben und zu ihm beten. Und ich habe noch etwas erfahren: wenn wir die Liebe zwischen Mann und Frau ausschließen, wenn wir die Kinder unseres Gottes bleiben, schließen wir noch viel mehr aus! Wir haben nicht nur die Gojjim von der Liebe Gottes ausgeschlossen, sondern auch die Tiere, die Pflanzen, die Erde, diese Felsen - alles, was uns nicht vom gleichen Geist erscheint! Nur weil wir nicht erkannt haben, daß Gott in Wahrheit überall und in allem und jedem ist. Es gibt kein Volk, bei dem Gott nicht wäre! Es gibt keinen Heiden, kein Wesen, kein Ding, in dem Gott nicht gegenwärtig wäre! Selbst in einem hartnäckig verblendeten Prediger, wie ich einer bin, ist Gott gegenwärtig!"

Wir lachten wieder. Es machte mich unendlich glücklich, daß Jeschua darüber lachen konnte, was ihn zuvor in tiefste Verzweiflung gestürzt hatte. Seine Füße spielten mit den Steinchen am Boden. Wir gingen langsam zu der Quelle, die zwischen Felsbrocken und Büschen versteckt war, um zu trinken und den Vorrat für die Nacht aufzufüllen. Plötzlich bückte er sich und hob ein ausgebleichtes Stück Holz auf, das seit urdenklichen Zeiten dort gelegen haben mochte oder von einer Wasserflut nach heftigen Regenfällen angeschwemmt worden war. Wir blieben bei der Quelle, die in einem dünnen Strahl floß. Aber ihr Wasser war klar und erfrischend. Jeschua setzte sich, spielte eine Zeitlang schweigend mit dem Holz und zog dann unversehens von irgendwoher ein Messer hervor und fing langsam an, in das Holz zu schneiden. Zwischendurch hob er es prüfend vor die Augen, drehte und wendete es, und schnitzte es dann langsam und andächtig weiter.

Ich schaute ihm halb zu, halb hing ich meinen Gedanken nach. Plötzlich lachte er:

"Ich habe noch verdammt viel nachzuholen und zu lernen, wie man anständig mit einem Stück Holz umgeht!"

Er hielt mir sein Werk entgegen. Es war eine ziemlich grob geschnitzte menschliche Figur, die ihre Arme weit ausgestreckt hielt.

"So habe ich dich damals auf dem Tavor gesehen", sagte ich. "Du hattest die Arme ausgebreitet, als wolltest du die ganze Welt umarmen!"

"Nicht nur die ganze Welt, Mirjam! Jetzt umarme ich erst einmal dich. Ich habe viel zu lange immer nur alle umarmt. Jetzt umarme ich dich, dich Einzige, Einzigartige! Eigentlich solltest du das sein. Ich sah dich vor mir, wie du mit weit ausgebreiteten Armen auf mich zukommst!"

"Dann sind wir beide diese Figur! Man erkennt sowieso nicht, ob es Mann oder Frau ist."

"Wie schön dieses Schnitzen ist! Endlich einmal wieder etwas Neues tun und erfahren! Seit du gestern über mich hereingebrochen bist, ist wieder alles neu und aufregend! Irgendwie hatte ich mich damit abgefunden, der Rav für alle zu sein. Immer war ich der, der an der Spitze steht, den alle fragen, den alle umdrängen und zu dem sie aufschauen. Ich war es, der ihnen sagte, was sie tun sollten - ich wußte alles, ich war alles für sie. Irgendwie war ich an meinem Ziel angelangt - und bis an mein Lebensende würde ich sie lehren, ihnen helfen und meine Liebe geben und schenken. Ich habe gar nicht gemerkt, wie langweilig mir das schon geworden war. In meinem Leben gab es nichts Neues mehr. Und ich war einsam geworden. Und jetzt, jetzt werde ich genau den umgekehrten Weg gehen, den ich bisher den anderen gewiesen habe. Ich höre auf, immer im Einklang mit allen Menschen leben zu wollen. Ich höre auf, allen zu predigen. Ich liebe eine einzelne Frau, und ich werde mich mit einzelnen Dingen beschäftigen. Mit diesem Holzstück zum Beispiel. Ich will schnitzen lernen. Ich habe bei meinem Vater viel gesehen und einiges, wie mir scheint, behalten. Ich will Körper und Figuren schnitzen. Ich will das Besondere jedes einzelnen Holzstücks herausfinden - und dann die Figur herausschnitzen, die in ihm steckt. Ich werde die Härte und Weichheit eines jeden Holzes studieren und seine Maserungen ertasten. Ich fange etwas Neues an - und dieses Neue wird sehr handfest! Wenn meine Schnitzereien im Laufe der Zeit zum Feuern benutzt werden oder wenn sie wurmstichig werden oder verfaulen - auch recht. Aber es ist schön, etwas Festes in Händen zu halten und es zu formen und zu gestalten. Das eine oder andere Stück findet vielleicht sogar einen Ehrenplatz in einem Haus, weil es schön geworden ist."

"Und wenn es jemand anbetet?" Ich wollte ihn nur necken.

"Dann soll er beten. Irgendwann wird auch dieses Stück und diese Form von selbst zerfallen oder im Feuer verbrennen. Jedenfalls werde ich nicht mehr lehren und predigen. Wir werden von hier fortgehen und irgendwo zusammen leben, einfach und schlicht. Ich werde wie mein Vater als Zimmermann arbeiten und zu meinem Vergnügen ein paar Sachen schnitzen. Und darin liegt meine Bestimmung und meine Aufgabe - hier, jetzt und heute. Und wer kommen und hören und sehen will - der komme, höre und sehe! Sie werden einen zufriedenen Hausvater vorfinden, der glücklich ist mit seiner Frau und mit seinen Kindern. Sie werden einen Zimmermann finden, der seine Arbeit liebt und der mit seiner Hand gerne über das Holz streicht. Und sie werden einen Jeschua finden, der abends gerne mit seinen Nachbarn plauscht und den Kindern Spielzeug schnitzt und ihnen Geschichten erzählt. Ich werde es wohl nie lassen können, ein bißchen zu erzählen und zu predigen ... Und sie werden eine Mirjam finden, die eine glückliche Frau und Mutter ist - und eine große Gelehrte, meine Rabbati!

Wir werden zusammen herausfinden, wie und wann wir welchen Menschen helfen können. Ich glaube, es hat nur Sinn, den Menschen etwas zu sagen, wenn sie von selbst kommen. Wenn sie sich selbst auf den Weg begeben, um das zu erfahren, was wir heute erfahren haben. Wenn sie nicht mehr zu einem Propheten, einem Rav, dem Maschiach kommen, sondern zu einem Gleichen unter Gleichen ... so sehe ich es jetzt. Und wir werden es gemeinsam tun und gemeinsam entscheiden. Mann und Frau, in Liebe verbunden, gleich zu gleich."

Wir lachten und freuten uns wie die Kinder und spannen unsere Gedanken fort. Ich tanzte innerlich vor Glück - es strömte durch jede Faser meines Körpers. Manchmal, wenn ich Jeschua ansah, hob mich das Glück so hoch, daß ich schwerelos, körperlos zu schweben glaubte. Vielleicht haben wir ja nur deshalb einen Körper, damit wir unser Glück überhaupt ertragen können! Ich war meinem Leib jedenfalls dankbar, daß er mich noch auf der Erde, bei Jeschua hielt.

Irgendwann fragte ich Jeschua, wann er den Schülern seinen Entschluß mitteilen wollte.

Er seufzte tief auf.

"Mirjam - diesen Tag, diesen ersten gemeinsamen Tag, wollen wir für uns bleiben, ganz für uns allein. Morgen werden wir zu ihnen gehen. Morgen werden sie es früh genug erfahren."

Ein leichter Schatten flog über sein Gesicht. Ich strich über seine Wange. Er lachte.

"Es wird nicht einfach mit ihnen sein. Du wirst sie ja sehen. In den letzten drei Jahren sind sie noch starrsinniger und überheblicher geworden, als du sie kennengelernt hast. Schlimmer als ein zusammengepferchter Hammelhaufen."

Dann vergaßen wir die Schüler, Jeschuas Predigen, die Römer und die aufgestachelten Erwartungen des Volkes. Unsere Körper fanden von neuem zusammen und trennten sich wieder. Aber in Wahrheit waren wir nie getrennt. Nähe - Entfernung, es spielte keine Rolle mehr. Ob wir sprachen oder schwiegen, ob wir aßen oder schliefen. Wir waren eins - und zwei zugleich.

Alle Trennung war aufgehoben. Es gab auch keine Trennung zwischen uns und der Wüste, es gab keine Trennung zwischen uns und der anbrechenden Nacht. Wir liebten uns, ob unsere Körper sich vereinigten, ob wir uns nur still in den Armen hielten, ob wir schliefen oder ob wir aufstanden und in das schweigende Dunkel hinausgingen. Zum ersten Mal sah ich das Leuchten der Sterne in einer Wüstennacht. Als wäre ein trüber Schleier von meinen Augen fortgerissen worden, funkelten sie nackt und klar - zum Greifen nahe. Nie hatte ich den Himmel schwärzer und tiefer, die Stille wirklich so still erlebt. Das Leuchten der Sterne, ihr Glitzern und Funkeln leuchtete, glitzerte und funkelte in mir, und ich atmete den unendlichen Himmel. In mir öffnete sich die schwarz schweigende Nacht. Ich war die Wüste, ich war die Nacht, ich war der Nachtfalter, der meine Wange streifte.

Alles war ineinander verwoben. Wir gehörten zum Universum - zu den Sternen und zu den Steinen unter unseren Füßen. Wir waren nur ein kleines Fädchen in einem großen Teppich mit wunderbaren Bildern und Farben und Mustern. Aber ohne das kleine Fädchen, das wir waren, verlor der kosmische Teppich seinen Zusammenhalt und löste sich auf. Und ich wußte, daß ich, daß mein Dasein den ganzen weiten Kosmos zusammenhielt - die Sterne und den Himmel und die Erde. Ohne mich gäbe es sie in diesem Moment nicht, genausowenig wie es mich gäbe ohne sie. Alles, was in diesem Augenblick existierte, gehörte zusammen und bildete das Muster dieses einen Augenblicks. Selbst jeder winzige Augenblick hatte seine Tiefe, seine Farbe, seinen Klang, seinen eigenen Charakter. Zum ersten Mal schien es mir, als ob sich hinter dem vordergründigen Sternenglauben der Heiden, ihrem ängstlichen Fragen, ob die nahe oder ferne Konstellation von Venus oder Iuppiter ihnen Glück bringe, eine tiefere Wahrheit verbarg als der lächerliche und verächtliche Aberglauben, für den ich ihn gehalten hatte.

Und das Wunderbare an diesem kosmischen Teppich war, daß er lebendig war! Daß er von Augenblick zu Augenblick schwang und sich wandelte. Daß die Spann- und Webfäden der gleichen unerschöpflichen Energie entstammten, aus der auch ich geboren worden war und immer noch geboren wurde. Ein stetes Gebären und Wachsen - und was verging, floß in neue Form, nahm neue Gestalt an. Zum ersten Mal begriff ich: das Neue kann nur entstehen, wenn Altes stirbt und vergeht. Ohne Bewegung, ohne Wechsel, ohne Gehen gibt es kein Kommen. Jede Bewegung, selbst das Zittern eines Härchens im Wind, zerstört die Ruhe des Seins, löscht den Augenblick aus und gebiert einen neuen. Ohne Tod gibt es keine Geburt, keinen neuen Raum, keine neue Zeit. Und in Wahrheit gibt es keinen Tod und keine Geburt, sondern nur lebendiges Leben, das sich ständig wandelt und entfaltet und niemals stillsteht.

Warum sind die Gottessöhne zu den Menschenfrauen herabgestiegen und haben Kinder mit ihnen gezeugt? Warum nehmen die Götter der Heiden Menschen- oder Tiergestalt an, um sich mit den Menschen zu paaren? Was unsterblich ist, wandelt sich auch nicht - es bleibt sich immer gleich. Dem Unsterblichen geschieht nichts Neues. Darum schlüpfen die unsterblichen Götter in die Leiber sterblicher Wesen, damit sie in der neuen Form, in der neuen Gestalt den Wandel und die Wandlung zu etwas Neuem erfahren! Denn wo alles gleich bleibt und die Wesen unsterblich und unvergänglich sind, ist Stillstand, ist Gleichförmigkeit, ist Erstarrung - und unendliche Langeweile. Der Tod - das ist das Geschenk des Lebens. Wie könnte es einen neuen Augenblick geben, wenn der alte nicht bereit wäre zu sterben, um neu geboren zu werden?

Ich hatte keine Angst mehr vor dem Tod. Was war der Tod, wenn nicht das Absterben eines Blattes, um ein anderes Blatt im nächsten Jahr an seine Stelle treten zu lassen? Der Baum bleibt am Leben und schlägt wieder aus. Und diese lebendige Kraft, die in uns strömt, die danach drängt, sich zu entfalten, zu gestalten, immer Neues zu gebären - nach meinem Tod würde sie neue Formen, neues Leben schaffen. Mein Leib würde sich in Maden und Fliegen verwandeln - und die lebendige Kraft würde in ihnen strömen wie in mir.

Manch dunkles Wort Heraklits wurde mir auf einmal klar. Er mußte etwas ähnliches erlebt haben wie wir: dieses Wandeln und Fließen von Augenblick zu Augenblick. Ja, niemand steigt zum zweiten Mal in denselben Fluß. Jeder Augenblick wird neu geboren und ist ein anderer als der vorangegangene. Ein Fluß steht niemals still, und wie der Fluß strömt das Leben weiter. Nichts wiederholt sich im Wandel der Zeit - und nichts im Raum ist gleich, was gleichzeitig ist. Jeder Stern ist verschieden vom anderen, jedes Sandkörnchen unterscheidet sich vom nächsten. Jedes Tier, jede Pflanze, jeder Mensch - alles, was existiert, ist in diesem Augenblick neu geboren und einzigartig! Jeder trägt mit seiner Farbe zum Muster des gesamten Teppichs bei. Wie kostbar wir sind in unserer Einzigartigkeit - und wie wenig wir davon wissen! Wie wenig ich davon gewußt hatte! Wie lächerlich und dumm es ist, zu glauben, durch Macht, Reichtum und Schmuck seinen Rang oder seine Schönheit zu erhöhen! Wie töricht und traurig der Glaube, durch Armut, Häßlichkeit oder Krankheit geringer zu sein als die anderen oder gar von Gott gestraft zu sein! Als ob wir unserer göttlichen Einzigartigkeit etwas hinzufügen oder von ihr wegnehmen könnten! Als ob irgendein anderer das könnte! Wir sind ja das unendliche Ganze! Wir sind das Universum - und beleidigen uns selbst, wenn wir glauben, daß ein Körnchen Gold oder die Herrschaft über andere uns erhöhen oder umgekehrt Mangel, Armut oder der Zwang der Knechtschaft uns erniedrigen könnten! Wir beleidigen Gott und uns selbst, wenn wir glauben, daß wir Gottes Liebe erst verdienen müssen. Gott ist das Ganze und wir sind Gott! Warum nach dem Tropfen jagen, wenn wir der Ozean sind! Sicher - Gold und Macht sind genauso Gott. Aber ebenso auch Dreck, Kot, Schweine und Würmer.

Gerade die Vielfalt der Bilder und Gestalten, die Fülle der Farben macht die Schönheit des Teppichs aus. Jede Farbe, jeder Faden trägt zum Ganzen bei: so auch wir Menschen und alle Lebewesen! Unsere Gestalt, unser Körper, unser Charakter, unser Denken - gerade daß wir als Teile verschieden sind, macht unsere Schönheit, unseren Wert aus! Und wir sündigen, wir freveln an Gott und uns selbst, wenn wir glauben, wir müßten anders sein, als wir gerade sind! Nur wenn niemand von uns als Kind verlangt, so gut oder so tüchtig oder so klug oder so schön wie das Nachbarkind zu sein - bleiben wir innerlich zufrieden und sind auch zufrieden mit Gott und mit der Welt. Aber wenn wir glauben, daß wir anders sein sollen, als wir geschaffen sind, versündigen wir uns gegen unser Selbst, gegen unser wahres göttliches Sein - und Ärger oder Verzweiflung kommen auf. Entweder Verzweiflung und Trauer, weil wir dem fremden Vorbild nicht genügen. Dann verkriechen wir uns und sehen die Welt in düsteren Farben und entwickeln nicht die Fähigkeiten, die uns wahrhaft mitgegeben sind. Oder es packt uns die Wut auf die anderen, die etwas von uns verlangen, das wir nicht erfüllen können. Und Trauer ist die Quelle unserer Begierden und Süchte, mit denen wir uns trösten. Dann behängen wir unsere Scham mit goldgewirkten Kleidern oder umgeben uns mit Knechten und Mägden. Und Wut gebiert Haß und Neid und Rachsucht - denn wie sollen wir anderen Glück und Zufriedenheit gönnen, wenn sie uns selbst nicht erlaubt sind?

An diesem Tag, in dieser Nacht brach alles zusammen, was ich bisher gewußt und geglaubt hatte. Und die Welt erstand wieder in einem neuen, tieferen, strahlenderen und liebenderen Licht. Ich sah nicht mehr das Trennende, das andere, das Falsche. Ich sah, wie alles zusammengehörte - wie kein Mosaiksteinchen als unpassend ausgesondert oder als fehlerhaft bemängelt werden kann. Jedes Mosaiksteinchen war gerade so und in dieser Form und in dieser Farbe am rechten Platz.

Es gab keine Juden und keine Gojjim mehr, keine Römer, Griechen, Syrer oder Samaritaner. Gab es nicht auch Griechen, die das Göttliche unmittelbar erfahren hatten? Wovon sonst sprach denn Platon in seinem Höhlengleichnis, wovon sonst sprachen Sokrates und Diotima, wenn sie - von Eros erfaßt - die Schönheit nicht nur im geliebten Freund, sondern in jeder Gestalt und Form erblickten? Wir Juden, die so stolz und hochmütig auf die Götzenstatuen und ihre Diener herabblicken und ihnen verächtlich unser drittes Gebot "Du sollst dir kein Bildnis machen" entgegenschleudern - wir sehen wohl die begrenzten Bilder der anderen, aber nicht unsere eigenen, begrenzten Bilder von Gott, an die wir glauben sollen.

Wir haben das Bild vom gestrengen Gott, vom eifersüchtigen und strafenden oder sich erbarmenden Gott: Gott will dieses Opfer und jenes nicht - Männer sind rein oder unrein, Frauen sind rein oder unrein. Wir haben das Bild vom Gott des Bundes, eines Bundes zwischen Gott und den Söhnen Jisraels. Wir haben das Bild eines Gottes der Vorschriften und Gebote, eines Wesens, mit dem man reden und rechten kann. Und hinter all den Bildern, dem Rankenwerk aus Geboten und Verboten, hinter dem wuchernden Unkraut von Sitten und Gebräuchen verbirgt sich nichts als "Ich bin, der ich bin". Denn das ist die Erfahrung aller, die existieren: "Ich bin, der ich bin." Ein Staubkorn ist nichts anderes als "Ich bin, was ich bin" - darin liegt sein ganzer Sinn, mehr bedarf es nicht.

Die Gedanken flogen wie Sternschnuppen durch meinen Kopf, leuchteten auf, verglühten. Dann war nur noch Stille. Jeschua und ich lagen aneinander geschmiegt. Ich spürte seinen Leib, seine Liebe - unendliches Glück.

"Jeschua, ich bin so glücklich, so glücklich zu leben, einfach da zu sein! Wenn ich jetzt stürbe, so stürbe ich voller Dankbarkeit für jede Minute, die ich gelebt habe - und dafür, daß ich das erfahren durfte."

Mit seinen Fingern strich er mir zart über Hals und Nacken.

"Als könnten wir je sterben! Als stürben wir nicht jeden Augenblick, um im nächsten Augenblick wieder neu geboren zu werden! In Wahrheit sind wir unsterblich - wenn auch nicht auf so langweilige Weise, daß wir immer dieselben bleiben! Mir tun die Götter der Griechen und Ägypter leid: Sie verändern sich nie! Immer bleiben sie dieselben in ihrer Unsterblichkeit. Ich dagegen war bis gestern ein Prophet, der vom Herrn mehr wußte als alle anderen. Ich war Gott näher als die übrigen Menschen. Deshalb hatte ich Mitleid mit ihnen. Deshalb predigte ich ihnen und tröstete sie. Und heute bin ich ein anderer - ich weiß nicht einmal, wer. Es ist wunderbar! Ich fühle mich wie ein neu geborenes Knäblein, das eben die Augen geöffnet hat. Ich weiß nicht, was mir der Tag bringt. Ich weiß nicht, was ich tun werde - und darin liegt das Wunder! Und darum möchte ich auch nicht, daß du jetzt stirbst - oder auch ich. Ich möchte noch so viel Neues mit dir zusammen erleben! Dies ist ein neuer Anfang und noch kein Ende!"

Er sprach nur aus, was ich selbst fühlte und wünschte. Einen ewigen Augenblick war ich das ganze göttliche Universum gewesen, die göttliche, liebende Kraft, die unaufhörlich alles neu erschafft. Ich war das Ganze und vollkommen glücklich und wunschlos. Nun war ich wieder bereit, ein Teil zu sein: Mirjam, die Jeschua liebte. Bereit zu einem Leben in menschlicher Begrenzung, um in dieser Begrenzung Neues zu erfahren. Das Wunder des Neuen ist es gerade, noch nie dagewesen zu sein! Es hat vorher nicht existiert, es ist vorher nicht gedacht worden - denn dann wäre es nicht neu, sondern nur das Fortführen, das Ausspinnen, Weiterverästeln von Vergangenem, längst Bekanntem. Es ist so neu und überraschend wie Wasser, wenn es plötzlich zu Dampf zerstiebt oder zu Eis gefriert. Als Erwachsene denken wir kaum noch darüber nach. Aber als Kind habe ich nicht glauben wollen, daß Wasser fest werden kann, bis in einem kalten Winter mein Vater einen Block Eis vom Chermon herbeischaffen ließ und mich geheimnisvoll lächelnd zu der schmelzenden Kostbarkeit führte.

Und so überrascht und voller Staunen wie damals fühlte ich mich jetzt. Und dabei noch argloser, vertrauensvoller: wie ein neugeborenes Kind, das mit blanken Augen zum ersten Mal in die Welt blickt - ganz Unschuld und Liebe. Ein Kind, das in die Welt gekommen ist, um zu lieben und geliebt zu werden. Ein Kind, das Liebe erwarten darf auf seinem ganzen Lebensweg. Ein Kind, das sich entwickeln und entfalten darf, was in seinem innersten Kern angelegt ist. Nicht zum Dienen und zum Nutzen sind wir auf dieser Welt. Aber wie gerne dienen wir anderen, wenn wir ganz wir selbst sein dürfen! Die ganze Welt zittert und schwingt in Liebe - und zum ersten Mal schwang ich selbst bewußt in dieser unendlichen Liebe, bereit, allen anderen Menschen, allen Wesen zu helfen, damit auch sie dieses Glück der Liebe erfahren können. Eine Schranke war zerbrochen, die mich von den Menschen und auch von den Tieren und Pflanzen getrennt hatte.

In unserer Familie hatte jeder nur an sich und an sein eigenes Glück gedacht, sorgsam darauf achtend, daß er nicht zu kurz käme. Als wäre die Liebe ein seltenes, kostbares Gut, das man am besten in eine Truhe sperrte, um damit um so sparsamer und haushälterischer umzugehen. Denn wer am meisten zurückbehielt, der konnte nach seinem Belieben Liebe und Gunst gewähren und Gegenliebe und andere Vorteile einfordern. Und nun war Liebe überall - in allem und jedem. Wie die weite, uns grenzenlos umgebende Luft umfächelte sie mich und floß durch mich hindurch. Warum hatte ich es vorher nicht gesehen? Warum hatten es meine Eltern, meine Geschwister nicht gesehen, warum sahen es die meisten Menschen nicht?

Als Jehuda mich zu Jeschua gebracht hatte, war ich bei ihm geblieben, weil seine Liebe so anders war als alles, was ich unter Liebe verstanden, erlebt und mir vorgestellt hatte. Es war eine Liebe, die mich sein ließ, wie ich war. Darum suchte und brauchte ich seine Liebe. Aber jetzt liebte ich selbst - und unsere Liebe hatte mir die Augen für die Liebe der Welt geöffnet. Ist es nicht so, daß wir um so mehr lieben, je tiefer wir lieben?

Aber warum war es dann nicht schon mit Jehuda oder Alpheios geschehen? Jehuda und ich - wir hatten uns zumindest anfangs geliebt. Und doch konnte ich es nicht mit der Liebe vergleichen, die ich mit Jeschua erfuhr. Jehuda und ich hatten uns geliebt - und doch hatten wir Angst voreinander gehabt. Jehuda hatte mich aus dem kalten Geld- und Machtstreben meiner Familie gerissen. Aber er zitterte bei der Vorstellung, ihn oder seine Frau könnte der Zorn des Herrn treffen, wenn wir uns nicht streng an alle Gebote und Regeln hielten. Ich hatte seine Angst gespürt und später dagegen aufbegehrt. Aber ich hatte mich nicht von ihr befreit. Ich war die Gefangene der Angst wie er selbst.

Alpheios hatte all seine weicheren Empfindungen hinter einer Maske aus Ironie, Witz und Zynismus versteckt. Wie sollten da Liebe und Vertrauen aufkeimen? Selbst Jeschua, der Freieste, war ja noch gefangen in der Angst vor dem Herrn, als wir zum ersten Mal unsere Liebe bekannten.

Es ist nicht Haß - es ist Angst, die die wahre Widersacherin der Liebe ist. Angst, nicht die sein zu dürfen, die wir sind. Angst, nur dann Liebe zu finden, wenn wir anders sind. Wenn wir so sein sollen, wie Gott, seine Gebote, seine Priester und Gelehrten es uns vorschreiben oder wie unsere Eltern, Ehegatten, Freunde, und Nachbarn uns haben wollen. Diese Angst, nicht zu genügen, zu versagen, der Liebe nicht wert zu sein, verschließt unsere Herzen. Wie können wir andere lieben, wenn wir uns selbst nicht geliebt fühlen? Aus Angst vor Nichtliebe, vor Ablehnung, vor Verachtung versuchen wir die Liebe zu ertrotzen, zu erkämpfen, zu erkaufen. Wir bemühen uns, wir wollen gefallen, wir krallen uns an Schmuck und Kleider, häufen Gold und Ämter an, halten uns an Gebote und Regeln. Und wer unsere Liebe nicht erringen will, wer uns nicht wiederliebt, wer unsere Anstrengungen nicht vergilt, den verfolgen wir mit unserem Haß. Ohne Angst gibt es keinen Haß. In der steten Angst, nicht gut und schön genug für die Liebe zu sein, haben wir auch kein Vertrauen, daß uns jemand wohlgesonnen sein könnte. Hinter Freundlichkeit wittern wir Arglist und Verrat, hinter Entgegenkommen nur Schwäche, hinter Friedfertigkeit das listige Abwarten auf einen günstigen Zeitpunkt zum Überfall. Die Angst läßt uns hassen, was wir nicht kennen. Jeder Fremde wird zu einer Bedrohung und Gefahr. Denn je weniger wir einen Menschen kennen, um so schneller stellt sich unsere Angst zwischen ihn und uns und erklärt uns seine geheimen Absichten und bösartigen Pläne. Und was für den einzelnen Menschen gilt, gilt für die Völker. Darum rüsten wir uns und schlagen wir lieber als erste zu, bevor die anderen zuschlagen. Wir stärken unsere Kampfkraft, wir streben nach Macht, wir hassen und unterwerfen fremde Völker - und noch mehr hassen wir die anderen, wenn wir die Unterlegenen, die Unterworfenen sind und ständig die eigene Ohnmacht zu spüren bekommen. Wenn die Angst bestätigt wird, wächst der Haß ins Unermeßliche. Wir Juden hassen die Römer, weil sie unsere Schwäche ausgenutzt und unser Land besetzt haben. Wir hassen sie, weil sie uns ausrauben, und die Armen ihre Kinder hungern sehen müssen, während die Römer und ihre Handlanger, die reichen Juden, in Luxus schwelgen. In unserem "gerechten" Haß übersehen wir, daß ohne die Römer unser Land durch Krieg und inneren Unfrieden zugrunde gegangen wäre und daß die Armen auch unter den jüdischen Königen Hunger gelitten haben.

Aber auch die Römer haben Angst - denn sonst würden sie sich nicht wie ein Geschwür in ihre Nachbarländer hineinfressen, um sie zu besetzen, zu beherrschen und auszuplündern. Als brenne Troja noch immer in ihrer Seele, als seien sie wie Aeneas noch immer auf der Flucht, als warteten die Nachbarvölker nur darauf, ihre neugegründete Stadt am Tiber zu überfallen und auszuplündern, erobern sie lieber selbst den ganzen Erdkreis. In Wahrheit sind sie genauso von nackter Angst besessen wie die von ihnen unterworfenen Völker. Angst steht gegen Angst. So wie Cajjin Angst hatte, als er Avel und sein gnädig aufgenommenes Opfer sah. Und so wie er in seiner Angst um die Liebe des Herrn seinen Bruder erschlug, so erschlagen uns die Römer aus Angst. Und die Juden und die anderen besetzten Völker schreien nach Rache - wieder aus Angst. Und keiner weiß von der Liebe, die Fülle und Freude ist. Keiner sieht den Bruder im anderen. Anstatt einander zu helfen, schlagen wir uns tot. Blind sind wir, wie junge Hunde oder Katzen, die ihre Augen noch nicht geöffnet haben. Erst seitdem ich liebe, liebe ich auch die Römer, die ich zwar schon lange nicht mehr gehaßt hatte, aber die mir fremd und gleichgültig geworden waren. Aber ohne die Erfahrung der Liebe mit Jeschua - wie hätte ich sie lieben können?

Ja, Jeschua und ich, wir waren wie Neugeborene. Wir blickten mit neuen, unschuldigen Augen in die Welt, so wie es ein Säugling tut. Ein Säugling weiß noch nicht, daß er zu einem Juden oder Römer heranwachsen wird, daß er einmal als Sklave den Kopf demütig zu senken hat und als Patrizier und Adliger stolz einherschreiten darf. Ein Säugling weiß noch nicht, daß er als Junge die Torah studieren, das Land bestellen oder ein Handwerk lernen wird und als Mädchen sittsames Betragen, die Hausarbeit und Gehorsam gegenüber dem Ehemann. Ein Säugling weiß noch nicht, daß er als Jude einmal die Römer und Gojjim hassen und als Römer alle anderen Völker verachten wird. Das neugeborene Kind weiß noch nichts von den Geboten, von den Festlegungen und Regeln, die sein Leben, Denken und Handeln bestimmen werden.

Und was tun wir mit unseren Kindern, mit den neuen, den unbekannten Wesen? Wir können das Neue, das Unbestimmte, das Ungewisse gar nicht ertragen. Darum versuchen wir so schnell wie möglich zu vergessen, daß unsere Kinder neue Wesen sind und machen sie zu tapferen Jungen und braven Mädchen, zu Römern und Juden, zu Herren und Sklaven. Wir zwingen sie in die überlieferten Formen und Vorstellungen und erwarten, daß sie genau das tun, was wir selbst gelehrt worden sind. Und wehe, ein Kind wagt, so anders und "neu" zu sein, wie es geboren wurde! Dann wird es zurechtgewiesen, zurechtgestutzt, verwarnt und bedroht - alle Strafen des Herrn werden herabbeschworen, bis es zahm und fügsam geworden ist. Haben wir je gewagt, ein Kind wirklich zu lieben - das neue, das unbekannte, das fremde Wesen? Lieben wir denn das Unbekannte, das Fremde, wenn es uns unvermittelt und überraschend entgegentritt?

Oder schirmen wir uns nicht vor dem Fremden, dem anderen und dem Neuen ab! Immer fürchten wir das Unvorhergesehene, das Unbekannte! Wir fürchten das Göttliche, das Unendliche und darum immer Überraschende so sehr, daß wir lieber davonlaufen oder es sogar bekämpfen. Oder wir machen es zu einem Herrn, zu einem Götzen. Dieser Herr ist dann so freundlich, einen Bund mit uns zu schließen. Seine zehn Gebote sind seine Vertragsbedingungen, erweitert durch Hunderte von Nebengeboten, die den Ablauf des täglichen Lebens regeln. Wie klar, überschaubar und berechenbar dann das Göttliche wird! Und wenn das Unvorhergesehene, das wahrhaft Neue doch einmal zu uns durchbricht, klammern wir uns in unserer Angst an Opfer und Gebete und versuchen, das Neue einzudämmen, einzuschüchtern und in unsere vertrauten Formen zu zwängen. Wir geben uns Mühe, die Gebote zu befolgen, und versuchen "gut" zu sein, obwohl wir das Gute nicht sehen. Wenn wir Gott oder das Göttliche erkennen könnten, könnten wir nicht einmal gedankenlos nach einer Fliege schlagen, denn sie ist genau göttlich wie wir. Töte ich eine Fliege, zerkaue ich ein Weizenkorn, könnte ich mir genausogut einen Arm abhacken. Die Fliege, das Weizenkorn sind "ich" genauso wie "mein" Arm, "mein" Körper. Und jedes Zerkauen eines Weizenkorns, jedes achtlose Zertreten eines Grashalms, jedes tödliche Zerklatschen einer Fliege ist Mord und vernichtet ein einmaliges, einzigartiges Lebewesen und damit eine ganze Welt. So wie jeder Mensch einzigartig ist und eine ganze Welt, die nicht getötet und zerstört werden darf. Aber wir müssen morden, um zu leben, um unsere eigene Gestalt zu erhalten und zu stärken. Mit jeder Brotkrume, die wir kauen und schlucken, vernichten wir ein Stück Welt. Wie furchtbar ist diese Erkenntnis, wie schwer, sie auszuhalten! Nur geborgen in der göttlichen Liebe, geborgen im Wissen des Einsseins läßt sie sich ertragen. Nur dann sehen wir, daß jeder Tod eine Verwandlung ist und die Geburt einer neuen Welt - so wie wir selbst sterben werden und uns in etwas anderes verwandeln. Nur wenn das Alte bereit ist zu sterben, kann sich das Neue entwickeln. Nur wenn meine Vorstellungen sterben, kann ein Kind sein neues, unbekanntes Wesen entfalten und zu dem einzigartigen Menschen aufblühen, der in ihm angelegt ist.

Der Tag dämmerte herauf. Die Umrisse der Berge, der Felszacken hoben sich immer schärfer vom Himmel ab. Dann krochen die ersten Sonnenstrahlen über den Boden, warfen endlose Schatten und verwandelten die Steine und Felsen in leuchtendes Gold. Ja, hier war der Garten Eden. Hier, mitten in der Wüste, mitten in unseren Herzen. Gott hatte uns nie daraus vertrieben. Wir hatten ihn nie verlassen. Er war immer da - um uns, in uns -, wir hatten ihn nur nicht mehr gesehen und ihn darum verloren geglaubt.


 

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Als Buch erschienen
im Verlag Dietmar Klotz, Eschborn
2. Auflage, 610 Seiten inkl. Karten und Anhänge. 
Gebunden. DM 48,-- 
ISBN 3-88074-273-1

 



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Regina Berlinghof:
Mirjam. Maria Magdalena und Jesus
Roman
 

Als Buch erschienen
im Verlag Dietmar Klotz, Eschborn
2. Auflage, 610 Seiten inkl. Karten und Anhänge. 
Gebunden. DM 48,-- 
ISBN 3-88074-273-1
 

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Stand: 27. Juli 2002